Gewalt tötet die Liebe: Schläge, das Vierte Gebot und die Unterdrückung authentischer Gefühle
Alice Miller im Gespräch mit Borut Petrovic Jesenovec für das slowenische Magazin ONA, Juni 2005
Sie haben herausgefunden, dass das Vierte Gebot ("Du sollst Vater und Mutter ehren ...") schädlich für die gesunde emotionale Entwicklung eines Kindes ist. Das dürfte für einige Menschen ziemlich schockierend sein. Wie sind Sie darauf gekommen, dass das einzige Ziel dieser "ehrenvollen Verfügung" die Manipulation und Unterwerfung des Kindes ist?
Das Vierte Gebot schadet nicht dem Kind, sondern später dem Erwachsenen. Alle Kinder lieben ihre Eltern und benötigen kein Gebot, das sie dazu auffordert. Aber wenn wir als Erwachsene realisieren, dass unsere Liebe ausgebeutet und missbraucht wurde, sollten wir in der Lage sein, unsere echten Gefühle wahrzunehmen, einschließlich der Wut, und nicht weiterhin gezwungen sein, Eltern zu lieben, die grausam zu uns waren. Die meisten Menschen haben Angst vor diesen "negativen" Gefühlen gegenüber ihren Eltern. Deswegen lassen sie diese Gefühle eher an ihren Kindern aus und setzen auf diese Weise den Kreislauf der Gewalt fort. Genau darin sehe ich die destruktive Auswirkung des Vierten Gebots. Da nach wie vor kein Gesetz existiert, das Eltern verbieten würde, ihren Ärger bei ihren Kindern abzuladen, kann auch noch das brutalste Verhalten von Eltern "Kindererziehung" genannt werden.
Sie gehen so weit, zu sagen, das Vierte Gebot verursache körperliche Krankheiten. Wie erklären Sie diesen Zusammenhang?
Was uns krank macht, ist die Unterdrückung der authentischen Gefühle. Wir unterdrücken unsere echten Gefühle aus Angst. Die unbewusste Angst des Kindes vor den gewalttätigen Eltern kann das ganze Leben wirksam bleiben, wenn wir uns mit Hilfe der Verleugnung weigern, uns mit dieser Angst zu konfrontieren.
Wir halten es für selbstverständlich, dass Eltern ihre Kinder "lieben". Leider ist das öfter nicht mehr als ein Mythos. Ist elterliche Liebe denkbar, wenn sie sich nur gelegentlich "erzieherischer Schläge" bedient?
Als Eltern sollten wir wissen, dass jede Form von Gewalt in der Erziehung, wie gut sie auch immer gemeint sei, die Liebe tötet.
Warum ist das Schlagen von Kindern falsch?
Schläge sind immer ein Missbrauch von Macht. Sie sind erniedrigend und erzeugen Furcht. Der Zustand der Furcht lehrt Kinder lediglich, misstrauisch zu sein und ihre authentischen Gefühle zu verstecken. Sie lernen darüber hinaus von ihren Eltern, dass Gewalt der angemessene Weg sei, Konflikte zu lösen, dass sie schlecht oder wertlos sind und der Korrektur bedürfen. Diese Kinder werden bald vergessen, warum sie geschlagen wurden. Sie werden sich sehr schnell fügen. Aber später werden sie dasselbe mit Schwächeren machen. Durch Schläge lehren wir Gewalt. Der Körper des Kindes hat die Lektion der Gewalt von den Eltern über einen langen Zeitraum hinweg gelernt, und so können wir nicht erwarten, dass er diese Lektion plötzlich etwa auf Geheiß religiöser Werte, die der Körper ohnehin nicht versteht, vergisst. Stattdessen speichert der Körper die Erinnerung an die Schläge.
Viele verabscheuungswürdige Taten werden im Namen elterlicher Liebe begangen. Wie definieren sie echte elterliche Liebe?
Ich liebe meine Kinder, wenn ich sie mit ihren echten Gefühlen und Bedürfnissen respektieren kann und versuche, diese Bedürfnisse - so gut ich es vermag - zu erfüllen. Ich liebe meine Kinder nicht, wenn ich sie nicht als gleichberechtigte Menschen betrachte, sondern als Objekte, die korrigiert werden müssen.
Sie sprechen vom Missbrauch des Kindes als dem "Verbotenen Thema" unserer Kultur. Warum ist das so und was ist nötig, um das zu ändern?
Das Thema ist verboten, weil die meisten von uns als Kinder geschlagen wurden und nicht daran erinnert werden wollen. Als Kinder haben wir gelernt, dass Schläge harmlos seien. Wir mussten dieser Lüge glauben, um zu überleben. Als Erwachsene wollen wir dann nicht wissen, dass Schläge tatsächlich schädlich sind. Es ist sehr interessant, wie aggressiv Menschen werden können, wenn Sie sagen: Schlagen Sie Ihre Kinder nicht. Sie werden noch aggressiver, wenn man Ihnen sagt: Sie wurden als Kind geschlagen und haben darunter gelitten; Sie waren gezwungen, Ihr Leid zu verleugnen, um zu überleben. Sie würden Sie lieber umbringen, als die Wahrheit anzuerkennen und den Schmerz zu fühlen, wie erniedrigt und ungeliebt sie waren, als sie von jemandem geprügelt wurden, der fünf Mal größer war als das Kind. Stellen Sie sich vor, wie es Ihnen erginge, wenn Sie auf der Straße plötzlich von jemandem in einem Wutanfall angegriffen würden, der fünf Mal größer ist als Sie, und Sie verstünden nicht einmal, warum das geschieht. Ein Kind kann diese Wahrheit nicht ertragen und muss sie unterdrücken. Ein Erwachsener kann sich aber mit der Realität konfrontieren. Als Erwachsene sind wir nicht so isoliert, wir können Zeugen suchen und haben ein Bewusstsein, über das wir als Kind nicht verfügten.
Sie sagen, dass Hass der Bewunderung missbrauchender Eltern vorzuziehen sei, weil Hass auch ein Zeichen unserer Vitalität ist. Im Hinblick auf ihre Eltern finden sich viele Menschen gefangen in einer Kette des Selbstbetrugs, sie idealisieren ihre Eltern. Wie können wir Hass, Wut und Ärger dahin richten, wohin sie gehören, und nicht gegen uns selbst oder gegen unsere Partner?
Wir können versuchen, mit uns selbst emotional ehrlich umzugehen und den Mut finden, uns mit der Realität unserer Kindheit zu konfrontieren. Leider gibt es nur wenige Menschen, die wirklich wissen wollen, was in den ersten entscheidenden Jahren ihres Lebens geschehen ist. Doch ihre Zahl scheint zuzunehmen. Vor einigen Jahren haben wir Internetforen in verschiedenen Sprachen gegründet. Das sind die "Ourchildhood-Foren". Erwachsene, die als Kinder missbraucht wurden und genauer wissen wollen, was ihnen geschehen ist und was sie wirklich dazu fühlen, können mit anderen Überlebenden ihre Erinnerungen in einer sicheren Umgebung teilen und so mehr und mehr in Kontakt mit ihrer wahren Geschichte kommen. Dank der Empathie fühlender Zeugen, erlangen sie mehr emotionale Klarheit, die hilft, den Umgang mit ihren Kindern zu verändern. Natürlich werden sie auch authentischer mit ihren Partnern und ihnen selbst, sobald sie die Ursachen ihrer starken, bislang unterdrückten Gefühle besser verstehen.
Eine der grundlegenden psychologischen Wahrheiten ist, dass Menschen, die in der Kindheit unter emotionalen Mangelerfahrungen litten, ihr ganzes Leben lang hoffen, doch noch die Liebe zu bekommen, die ihnen verweigert wurde. Warum ist es so schwer, zu akzeptieren, dass wir für niemanden Bedeutung hatten? Viele Menschen begehen sogar lieber Selbstmord.
Da haben Sie ganz recht. Einige Menschen begehen lieber Selbstmord oder akzeptieren eine chronische Erkrankung; einige werden Diktatoren über eine ganze Nation oder Serienmörder. Sie führen also den Anderen vor, was sie als Kinder gelernt haben (Gewalt, Grausamkeit und Perversion), anstatt ihre frühen Entbehrungen anzuerkennen. Je mehr die Menschen als Kinder entbehren mussten, je schlimmer sie misshandelt wurden, um so stärker hängen sie noch als Erwachsene an ihren Eltern und warten darauf, dass diese sich ändern mögen. Es scheint auch so, als ob sie in ihrer kindlichen Furcht stecken blieben. Diese Furcht eines gequälten Kindes macht jede Form des Aufbegehrens undenkbar, selbst dann, wenn die Eltern bereits tot sind.
Da wir gerade bei diesem Thema sind: Slowenien ist bekannt für seine hohe Selbstmordrate. Wie würden Sie dieses Problem angehen?
Selbstmord ist wie die Depression immer eine Folge des verleugneten Leidens der Kindheit. Ich habe über Depression einen Artikel geschrieben, den Sie auf meiner Website lesen können. Dort beziehe ich mich auf viele Beispiele sehr erfolgreicher Stars, wie etwa die berühmte Sängerin Dalida. Diese Stars hatten alles, was sie wünschten; sie wurden bewundert und waren berühmt. Aber in der Lebensmitte wurden sie depressiv und viele begingen Selbstmord. In allen diesen Fällen waren es nicht die Umstände der Gegenwart, die sie leiden ließen, sondern die verleugneten Traumen ihrer Kindheit, weil sie diese niemals bewusst anerkannten. Der Körper wurde mit seinem Wissen allein gelassen.
Wie kommen Moral und Ethik Ihrer Meinung nach zustande? Warum wird ein Mensch unmoralisch oder moralisch?
Ein Mensch entwickelt eine Moral niemals, indem man ihm predigt, er erlernt ethische Werte nur durch die Erfahrung. Niemand kommt bösartig auf die Welt. Es ist lächerlich, wie im Mittelalter anzunehmen, der Teufel würde ein bösartiges Kind in eine Familie schicken, die dieses Kind nun mit Schlägen korrigieren müsse, damit aus ihm ein anständiger Mensch werde. Ein gequältes Kind wird später zum Peiniger und ganz sicher ein grausamer Elternteil, es sei denn, es hätte in der Kindheit einen helfenden Zeugen gefunden, einen Menschen, bei dem es sich sicher, geliebt, beschützt und geachtet fühlen konnte: Dank dieser Erfahrung hätte das Kind gelernt, was Liebe ist. Es ist sehr bezeichnend, dass in den Kindheiten aller Diktatoren, die ich untersuchte, nicht ein einziger helfender Zeuge zu finden war. So glorifizierte das Kind die Gewalt, die es erdulden musste.
Religionserziehung lehrt uns, unseren Peinigern zu vergeben. Sollten wir ihnen tatsächlich vergeben? Ist das überhaupt möglich?
Es ist verständlich, dass wir vergeben und vergessen wollen, um nicht den Schmerz fühlen zu müssen, aber dieser Weg funktioniert nicht. Früher oder später stellt sich heraus, dass er überhaupt zu keiner Lösung führt. Betrachten Sie doch nur die vielen Kindesmissbraucher innerhalb der Geistlichkeit. Sie haben Ihren Eltern den sexuellen Missbrauch oder andere Machtmissbräuche vergeben. Aber was machen viele von ihnen nun? Sie wiederholen die "Sünden" ihrer Eltern, gerade WEIL sie ihnen vergeben haben. Könnten sie bewusst die Taten ihrer Eltern verurteilen, wären sie nicht gezwungen, dasselbe anderen Kindern anzutun, diese zu belästigen und zu verwirren, indem sie sie zum Schweigen verdammen. Ganz so, als sei dies die normalste Sache der Welt und nicht vielmehr ein Verbrechen. Sie betrügen sich einfach selbst. Religionen können eine starke Macht über unser Denken haben und uns auf vielerlei Art und Weise zum Selbstbetrug nötigen. Aber sie haben nicht den geringsten Einfluss auf unseren Körper, der unsere starken Emotionen ganz genau kennt und darauf besteht, dass wir sie respektieren.
Ist Mitleid mit Milosevic oder Saddam Hussein akzeptabel?
Ich hatte immer Mitleid mit Kindern, aber niemals mit einem erwachsenen Tyrannen. In diesem Punkt wurde ich manchmal missverstanden, insbesondere, als ich die Kindheit von Adolf Hitler beschrieb. Einige Leser verstanden nicht, dass ich Mitleid mit dem Kind empfinden konnte, aber nicht für den erwachsenen Hitler, der ein Monster wurde, gerade weil er verleugnete, wie sehr er unter den Erniedrigungen durch seinen Vater gelitten hatte (der übrigens ein illegitimes Kind eines Juden war; vgl. "Am Anfang war Erziehung"). Als Kind war Adolf Hitler selbstverständlich nicht in der Lage, seine Würde zu verteidigen, aber als Erwachsener blieb er ebenfalls unterwürfig. Das ganze Leben lang fürchtete und ehrte er seinen Vater, litt in der Nacht unter Panikattacken und seinen immensen Hass richtete er gegen alle Juden und Halbjuden.
Die stärksten Bewunderer ihrer Eltern sind jene Menschen, die von den Eltern am meisten entbehren mussten. Da ist ein sehr grausamer Mechanismus am Werk und das führt zu einer sehr pessimistischen Sicht auf das Leben. Gibt es Hoffnung für die besonders stark Verletzten?
Ich denke nicht, dass meine Sicht pessimistisch ist. Ich denke ganz im Gegenteil, dass wir verstehen können, wie der Kreislauf der Gewalt funktioniert, wir können unser Wissen mit anderen teilen und gemeinsam daran arbeiten, die Gewalt zu beenden. Wenn wir aber glauben, dass Menschen mit Genen geboren werden, die sie gewalttätig machen, können wir gar nichts verändern. Obwohl diese Meinung ausgesprochen pessimistisch und schwachsinnig ist, wird sie von vielen sogenannten intelligenten Menschen geteilt. Ich habe niemals eine Antwort auf meine Frage bekommen, warum in Deutschland ausgerechnet unter der Herrschaft von Hitler oder in Serbien unter Milosevic so viele Menschen mit genetischen Defekten gelebt haben sollen. Die Gründe für diese irreführende Idee sind immer gleich: Menschen glauben lieber an genetische Ursachen, als zu sehen, wie sie von ihren Eltern misshandelt wurden und den Schmerz zu fühlen. Wenn sie aber den Schmerz fühlten, könnten sie sich vom Wiederholungszwang befreien und so verantwortliche Erwachsene werden. Diese Aussage ist nun in keiner Weise pessimistisch.
Gibt es Hoffnung für jene Menschen, die keinen Zeugen finden können?
Ein informatives Buch kann durchaus auch eine Art Zeuge sein. Je öfter wir über diese Problematik sprechen und schreiben, umso mehr Zeugen werden zur Verfügung stehen, gut informierte Zeugen, die Kindern helfen können, sich geachtet und sicher zu fühlen, und Erwachsenen, ihre Wahrheit zu ertragen. Die Verleugnung zwingt uns nicht nur zu wiederholen, sie verbraucht auch eine große Menge an Energie. Krankheiten, Essstörungen und die Abhängigkeit von Substanzen sind die Folgen.
Das "Positive Denken" ist ebenso schädlich wie religiöse Forderungen nach der Vergebung und jene zu lieben, die uns hassen. Sollten wir nicht lieber Selbsthilfe-Ratgeber aus der sogenannten New-Age-Richtung meiden?
Da haben Sie recht. Das "Positive Denken" ist in keiner Weise ein Heilmittel, weil es eine Form des Selbstbetrugs ist, eine Flucht vor der Wahrheit; es kann nicht helfen, weil der Körper es besser weiß. In meinem auf meiner Website kürzlich veröffentlichten Artikel "Was ist Hass" erkläre ich diesen Aspekt ausführlicher. Das mache ich auch in meinem jüngsten Buch, das bald in ihrer Sprache publiziert werden wird.
Was sind die politischen Konsequenzen Ihres Schreibens?
Sie könnten in der Tat förderlich sein, wenn Politiker keine Angst davor hätten, sich mit ihrer Wahrheit zu konfrontieren. Die meisten Politiker sind emotional zwei Jahre alte Kinder geblieben, die niemals geliebt und respektiert wurden als die Persönlichkeiten, die sie waren, mit ihren Gefühlen und Bedürfnissen, auch wenn einige für ihre Leistungen bewundert wurden. Sie verleugnen die Frustrationen ihrer Vergangenheit und suchen nach liebenden Eltern in der Person ihrer Wähler. Je mehr Geld sie für ihre Wahlkampagnen bekommen, um so stärker fühlen sie sich geliebt. Aber diese "Liebe" kann niemals die vom Kind vermisste Liebe einer strengen, kalten, fordernden und grollenden Mutter ersetzen. Darunter hat das Kind gelitten, dieses Leiden verdrängt, und daher hört sein Kampf um Liebe niemals auf. Und Tausende Menschen werden den Preis dafür zahlen.
Die politischen Konsequenzen meines Schreibens werden noch nicht von vielen Menschen verstanden. Es gefällt Leuten, menschliche Grausamkeit als ein Rätsel zu betrachten oder als angeboren. Auch einige Ideologien sind gut geeignet, die tatsächlichen Ursachen für Grausamkeit zu verschleiern. Sehen Sie sich an, was in Jugoslawien geschah, als serbische Soldaten die Erlaubnis erhielten, sich für die verleugneten Schmerzen der in den ersten Lebensjahren geschlagenen Kinder zu rächen. Milosevic gab ihnen die Erlaubnis, und das genügte. Instruktionen für die Grausamkeit waren nicht nötig, die Soldaten hatten sie in ihren Körpern gespeichert. Jahrelang waren sie als Kinder Grausamkeiten ausgesetzt gewesen und durften niemals reagieren. Nun konnten sie sich an unschuldigen Menschen rächen und vorgeben, sie kämpften aus ethnischen Gründen. Ebenso wurden Millionen Deutsche, die als Kinder in die Unterwerfung geprügelt worden waren, zu sadistischen und perversen Erwachsenen, sobald ihnen Hitlers Regime gestattete, sich so zu verhalten.
Vor 25 Jahren zeigte ich in meinem Buch "Am Anfang war Erziehung", wie all jene Deutsche aufgewachsen waren, die als Erwachsene Hitler folgten. Zu dieser Zeit glaubten Menschen, es sei notwendig, ein Kind so bald wie möglich zu schlagen, am besten sofort nach der Geburt, damit aus ihm ein "anständiger" Mensch werde. Dank der Erforschung des kindlichen Gehirns in den vergangenen zehn Jahren wissen wir heute, dass die Entwicklung der Hirnstruktur abhängig von der Erfahrung ist. Jeder Mensch wird mit einem noch nicht vollständig entwickelten Gehirn geboren, es dauert mindestens die ersten drei Lebensjahre bis dieser Prozess halbwegs abgeschlossen ist. Die Strukturierung des Gehirns korrespondiert mit den frühen Erfahrungen des Kindes (ob es Liebe empfängt oder Grausamkeit). So ist es nicht überraschend, dass in Ländern, in denen das Schlagen von Kindern gestattet und allgemein üblich ist, Kriege und sogar Genozide und Terrorismus unvermeidlich scheinen. Aus diesem Grund brauchen wir ein Gesetz, das die körperliche Bestrafung von Kindern untersagt. Leider gibt es ein solches Gesetz nur in kleineren Ländern und die größeren, wie die Vereinigten Staaten von Amerika, sind weit davon entfernt, ein solches Gesetz nur in Erwägung zu ziehen. Dort ist die Korrektur von Kindern durch körperliche Bestrafung in nicht weniger als 22 Bundesstaaten erlaubt.
Auf der Website www.nospank.net können Sie erfahren, dass für die meisten Amerikaner das Schlagen der Kinder zu Hause und die Züchtigung in der Schule nach wie vor selbstverständlich sind. Sie wurden selbst geprügelt und bestehen nun auf ihrem RECHT, dasselbe mit ihren Kindern zu tun. Es gibt allerdings Grund zur Hoffnung, dass diese und andere, ähnliche Websites früher oder später eine Veränderung bewirken werden. Die kausale Verbindung zwischen "erzieherischer" Gewalt und Gewalttätigkeiten in unserem politischen Leben ist heute für einige Leute so offensichtlich, dass sie nicht für immer verschwiegen werden kann.
Es sollte das ERSTE Gebot sein, das sagt: "Ehre Deine Kinder, so dass sie später keine inneren Schutzmauern gegen den alten Schmerz errichten und sich nicht gegen Phantomfeinde mit schrecklichen Waffen verteidigen müssen, die die ganze Welt zerstören können."
Was ist falsch in der heutigen psychoanalytischen Praxis? Warum wurden Sie aus der psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen?
Man hat mich nicht aus der psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen; ich habe mich von vielen Schulen entfernt, als mir deren traditionelle Ansichten und deren Verleugnung des kindlichen Leidens immer deutlicher auffielen. Schließlich musste ich erkennen, dass die Psychoanalyse in dieser Hinsicht keine Ausnahme darstellt. Die Art und Weise, in der Freud den Ödipus-Mythos benutzte, ist sehr bezeichnend. Da wird die allgegenwärtige Tendenz, das Kind zu beschuldigen und die Eltern zu beschützen, sehr deutlich. Offenbar hat Freud vergessen, dass Ödipus zuerst das Opfer seiner Eltern war und von ihnen in die Rolle eines "Sünders" gedrängt wurde. Seine Eltern setzten ihn als sehr kleines Kind aus. Es ist sehr erhellend, die wahre Geschichte des Ödipus zu lesen. Mit dieser Geschichte befasst sich auf meiner Website auch ein Artikel in deutscher Sprache von Thomas Gruner.
Was die gegenwärtige psychoanalytische Praxis angeht, ist der Schutz der Eltern meiner Meinung nach durch einige Regeln gesichert, wie etwa die Forderung nach Neutralität des Therapeuten (anstatt der Parteilichkeit mit dem kindlichen Opfer) aber auch durch die Fokussierung auf Phantasien (anstatt der Konfrontation mit der Realität einer grausamen Erziehung der Klienten). Sie finden meine jüngsten Artikel zu diesen Aspekten ebenfalls auf meiner Website.
Sie beschreiben das emotionale Leben von einigen der geachtetsten Schriftsteller der Moderne. Wen könnten Sie beispielhaft für als einen Helden nennen, der erfolgreich den Konflikt mit seinen Eltern überwunden hat?
Das ist eine interessante Frage, die mir bislang noch niemand gestellt hat. Ich habe lange gesucht, aber ich habe nicht einen Schriftsteller finden können, der nicht glaubte, wir müssten schließlich unseren Eltern vergeben. Selbst wenn sie die Grausamkeit ihrer Erziehung sehen, fühlen sie sich für dieses Sehen schuldig. Franz Kafka war in dieser Hinsicht einer der mutigsten Schriftsteller, aber zu seiner Zeit konnte niemand sein Wissen unterstützen. So fühlte er sich schuldig und starb als junger Mann, wie Proust, Rimbaud, Schiller, Tschechow, Nietzsche und so viele andere, die anfingen, sich ihrer Wahrheit zu nähern, aber Angst vor ihr hatten. Warum ist es so schwer, die Wahrheit zu ertragen, dass man in der Kindheit missbraucht wurde? Warum verurteilen wir uns lieber selbst? Weil die Selbstanklage uns vor dem Schmerz schützt. Ich denke, der schlimmste Schmerz, den wir erleben müssen, um emotional aufrichtig zu werden, ist die Erkenntnis, dass wir niemals geliebt wurden, als wir es am meisten brauchten. Das sagt sich so leicht, aber es ist sehr, sehr mühevoll, diesen Schmerz zu fühlen, die Tatsachen zu akzeptieren und die Erwartung aufgeben, eines Tages werden meine Eltern sich ändern und mich doch noch lieben. Im Gegensatz zu Kindern können sich Erwachsene von dieser Illusion befreien - zum Wohle ihrer Gesundheit und ihrer Kinder. Menschen, die ihre Wahrheit wirklich kennen wollen, sind dazu in der Lage. Und ich denke, dass diese Menschen die Welt verändern werden. Sie werden nicht als "Helden" auftreten, sie mögen ganz bescheidene Leute sein, aber es besteht kein Zweifel daran, dass ihre emotionale Ehrlichkeit einmal die Mauer der Ignoranz, der Verleugnung und der Gewalt einreißen wird. Der Schmerz, nicht geliebt worden zu sein, ist nur ein Gefühl; ein Gefühl ist niemals destruktiv, wenn es an die Person gerichtet wird, die den Schmerz verursachte. Dann ist sogar Hass nicht destruktiv, sofern er dem Bewusstsein zugänglich ist und nicht blind ausagiert wird. Aber Hass kann sehr destruktiv sein, auch gefährlich für einen selbst und für andere, wenn er verleugnet wird und sich gegen Sündenböcke richtet.
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