Interview mit Julia Becker
Das Gespräch mit Julia Becker stammt aus dem Jahre 1984. Es wurde nicht von einer Zeitung in Auftrag gegeben, sondern entspringt ihrer eigenen Initiative. Deshalb waren wir vollkommen frei von jeglicher Zensur. Mit der Zeit geriet es in Vergessenheit. Ich habe es jetzt erst wieder entdeckt und festgestellt, dass die meisten Fragen, die mir da gestellt wurden, immer noch aktuell sind, weil sie mir auch heute noch häufig gestellt werden, obwohl ich sie in meinen Büchern bereits beantwortet habe. Deshalb habe ich mich jetzt entschlossen, das Interview in die Website aufzunehmen.
Es gibt noch eine Reihe anderer Interviews , die ich im Laufe der letzten 20 Jahre gegeben habe. Einige davon werde ich hier veröffentlichen.
—Alice Miller
Frau Miller, Sie haben lange gezögert, bis Sie mir die Zusage zu diesem Interview gaben. Sie wollten zunächst wissen, wie ich den Inhalt Ihrer Bücher emotional verkraftet habe und ich habe es Ihnen geschrieben. Sind Sie immer so vorsichtig, bevor Sie jemandem ein Interview gewähren?
Ja.
Warum? Haben Sie so schlechte Erfahrungen mit Journalisten gemacht?
Nein, bisher nicht, aber gerade weil ich mich vorher genau erkundige. Daher hatte ich bis auf eine Ausnahme interessante Gesprächspartner.
Ich möchte vorher wissen, mit wem ich mich in ein solches Gespräch einlasse. Es gibt viele Journalisten, die sehr intelligent sind und eine besondere Fähigkeit haben, sich in kurzer Zeit mit verschiedenen Gedankengängen bekannt zu machen. Doch sie haben keine Zeit und keine Möglichkeit, sich gerade mit diesen Gedanken wirklich auseinander zu setzen, die ich ihnen anbiete. Bei einem solchen Menschen hätte ich beim Interview das Gefühl, dass er mir mit einem Ohr zuhört und dass sein anderes Ohr damit beschäftigt ist, darauf zu horchen, wie sein Redakteur das aufnimmt, was ich jetzt sage, ob er ihm genug Platz gibt, um das so auszuführen, wie er es möchte, und ob der Interviewer nicht durch meine Aussagen sogar seine Stelle riskiert. Da ich die Schwierigkeiten kenne, mit denen viele Journalisten zu kämpfen haben, stünde auch ich in einem solchen Gespräch unter dem Druck der Institution und eine solche Unfreiheit käme niemandem zugute. Außerdem ist es sehr schwer, das, was ich zu sagen habe, in einem Gespräch zu sagen, ohne Gefahr zu laufen, sich Missverständnissen auszusetzen.
Ich habe schon aus Ihrem Brief an mich den Eindruck bekommen, dass Sie von vorneherein damit rechnen, missverstanden zu werden, und ich habe mich eigentlich darüber gewundert, denn ich kenne sehr viele Menschen, die Ihre Bücher lasen und Sie in einem ungewöhnlich hohen Masse verstanden haben, auch wenn sie sich früher niemals mit psychoanalytischer Literatur befasst hatten. Viele sagten mir: "Ich fand in diesen Büchern mein Leben beschrieben und konnte nicht glauben, dass es einen Menschen gab, der mein Leiden gesehen hat." Genügt Ihnen das nicht als Versicherung, dass Sie keine Mühe haben, sich verständlich zu machen?
Ich verstehe, was Sie meinen, aber es ist ein großer Unterschied, ob ich ein Buch schreibe oder ein Interview gebe. Beim Schreiben der Bücher bin ich in meiner Freiheit nicht eingeschränkt, weder durch Institutionen, noch durch zeitliche und räumliche Bedingungen. Ich erzähle Geschichten, in denen sich die Leser wieder finden, ich gebrauche Bilder, die für die Leser eine Spiegelfunktion haben, ohne dass ich es beabsichtige. Ich argumentiere nicht mit abstrakten Begriffen, sondern bringe für alle meine Behauptungen Beispiele und Bilder, so dass sie denjenigen direkt überzeugen, der dafür offen ist. Und die andern eben nicht. Damit respektiere ich auch die Freiheit des Lesers. Wenn ich mich aber mit einem Journalisten in ein Gespräch einlasse und von Anfang an spüre, dass er die Überzeugungskraft meiner Bilder fürchtet und lieber mit mir auf dem Niveau einer rein intellektuellen Diskussion stehen bleiben möchte, dann fühle ich mich in einer Welt gefangen, deren Grenzen meine Bücher gerade aufgezeigt haben. Es würde also für mich bedeuten, meine Bücher zu verraten, wenn ich mich einem Interviewer zuliebe in diese enge Welt wieder begeben sollte.
Das, was Sie jetzt gesagt haben, könnten viele Menschen in diesem Sinne verstehen, dass Sie aus der intellektuellen Welt in eine spiritistische, interpersonale oder religiöse Welt hinausgetreten sind, wie z.B. Stanislav Grof. Das kann aber nicht stimmen, denn Sie halten sich an die Empirie, und alles, was Sie schreiben, betrifft unser diesseitiges Leben. Es findet sich bei Ihnen kein Hauch von Mystik oder Mystifikation.
Ich bin froh, dass Sie mich auf diese Gefahr aufmerksam machen. Es gäbe wohl kein größeres Missverständnis, als mir das zuzuschreiben. Natürlich meine ich nicht eine transzendente, "interpersonale" Realität. Ganz im Gegenteil, ich beschäftige mich immer mit konkreten Menschen und konkreten Schicksalen. Ich versuche einfach, die Zusammenhänge zwischen den realen Erlebnissen in der Kindheit und dem späteren Leben oder Werk der Erwachsenen zu zeigen. Diese Zusammenhänge sind noch wenig bekannt, und gerade daher zeige ich sie immer am konkreten Material auf, so dass der Leser selber seine Schlüsse ziehen kann.
Habe ich Sie richtig verstanden, wenn ich meine, dass Sie bei der Auswahl der Interviewer so vorsichtig sind, weil sie nicht jemanden schockieren möchten mit Wahrheiten, mit denen er bisher noch nie in Berührung gekommen ist?
Ja, das haben Sie sehr genau erfasst: Es ist die Scheu, die ich dann empfinde. Ich bin beim Schreiben meiner Bücher zu Schlüssen gekommen, die sehr Vieles in Frage stellen, was seit Jahrtausenden für gut und richtig galt. Um das zu finden, habe ich einen sehr langen inneren Prozess durchmachen müssen. Zuerst versuchte ich, meine Entdeckungen mit meinen Kollegen zu teilen und stieß sehr bald auf eine Mauer von Angst und Abwehr, die ich verstehen wollte. Bei diesem Bemühen, die Tabus zu verstehen, die eine solche Haltung nötig machten, habe ich neue Entdeckungen gemacht. Wie kann ich das alles einem Menschen sagen, der unvorbereitet für einige Stunden zu mir kommt, um einen Artikel über mich zu schreiben, weil eine Zeitung dies bei ihm in Auftrag gegeben hat? Ich muss doch ständig Tabus berühren, die er noch niemals hinterfragt hat, und das möchte ich weder ihm noch mir antun.
Ja, jetzt verstehe ich Sie besser. Ohne die Lektüre Ihrer Bücher und den Schock, den ich dabei erlebt habe, könnte ich gar nicht verstehen, was Sie jetzt meinen. Auch ich hatte meine Kindheit für gut gehalten, bevor ich Ihre Bücher las. Ich habe nur sehr darunter gelitten, dass ich mit meinen Kindern nicht so sein konnte, wie ich wollte, dass ich sie grundlos beschimpfte und manchmal schlug. Erst durch Ihre Bücher erhielten meine Erinnerungen einen völlig neuen Sinn, und ich konnte mich dem Wissen nicht mehr entziehen, dass ich in einer grausamen Art misshandelt wurde und dies mein ganzes Leben als eine richtige, notwendige Erziehung zum Guten angesehen habe. Wenn ich zur Strafe für ein lächerliches Vergehen geschlagen wurde, musste ich noch anschließend auf den Knien um Entschuldigung bitten. Dreißig Jahre meines Lebens hielt ich das für einen Beweis meiner Bosheit. Erst durch Ihr Buch "Am Anfang war Erziehung" habe ich begriffen, wer sich für diese Szenen hätte entschuldigen müssen und seitdem schlage ich meine Kinder nicht mehr. Immer wenn ich die Geduld verliere, kommt mir diese Szene ins Gedächtnis. Beim ersten Mal brach ich in furchtbares Weinen aus, und das war der Wendepunkt meiner Beziehung zu meinen Kindern. Natürlich bin ich nicht frei von Wut, die aus meiner Kindheit stammt, aber ich weiß jetzt, wem sie gilt.
Und das ist genau, was man aus meinen Bücher holen kann, aber nicht als Rezept und nicht ohne eigene Tränen. Ein Rezensent schrieb einmal, in der Zeitschrift "The Church World" Folgendes:
"(Catholic) Bible will be somewhat embarrassed by Dr. Miller's citation from the Book of Sirach, or Ecclesiatucus, Chapter 30, Verses 1-13, which section has to be the worst advice on bringing up children ever provided under such solemn auspices. Read it and weep, though the weeping may come only after you have read Dr. Miller."
Mit diesen Worten hat der Rezensent sehr treffend ausgedrückt, was meine Bücher für viele Leser so hilfreich macht, nämlich die Erkenntnisse, die helfen, die eigenen Kinder zu schützen. Aber er zeigt auch, warum diese Bücher keine Rezepte anbieten. Denn die in ihnen enthaltenen Erkenntnisse sind nicht zu kaufen. Sie können auch gar nicht erlangt werden, ohne die eigene Erfahrung von Wut, Schmerz und Trauer. Die daraus resultierende Vertiefung des Wissens und des Bewusstseins entsteht aus der Begegnung des Lesers mit der eigenen Vergangenheit, die, dank dem, was ich geschrieben habe, möglich wird. Wer diese Begegnung nicht will, wird kaum von meinen Büchern profitieren. Wer sie aber sucht, dem werden diese Bücher helfen, sich mit seiner Vergangenheit, seiner Kindheit, seinen Eltern einzulassen und aus diesen Begegnungen zu lernen.
Haben Sie jetzt eine Hoffnung für die Zukunft ausgesprochen oder hat sich diese Hoffnung schon bestätigt? Wenn ja, auf welchen Wegen erfahren Sie das?
Aus den unzähligen Leserbriefen. Dabei ist ein Phänomen zum Vorschein gekommen, das Sie überraschen wird, das auch für mich zunächst überraschend war, bis ich gelernt habe, es zu verstehen. Die Menschen, die am wenigsten bereit sind, aus ihren eigenen Erfahrungen zu lernen und neue Erfahrungen zu machen, sind Therapeuten. Sehr viele Patienten schrieben mir, dass sie ihre Psychoanalytiker baten, meine Bücher zu lesen, in der Hoffnung, so besser verstanden zu werden, aber auf Ablehnung gestoßen wären. Dabei hätten die Patienten nichts anderes gewünscht, als dass sich der Erfahrungsbereich ihrer Analytiker erweitert hätte, indem sich diese mit der eigenen Kindheit zu konfrontieren wagten.
Wie erklären Sie sich diesen Widerstand der Analytiker gegen die eigene Kindheit?
Zunächst einmal durch die einfache Tatsache, dass Vieles, was die Therapeuten gelernt haben, durch meine Bücher in Frage gestellt wird und ihnen daher Angst machen muss. Es konfrontiert sie mit der Frage, ob das, was sie in vielen Jahren und unter vielen finanziellen und zeitlichen Opfern gelernt haben, nicht eine große Täuschung und Mystifikation war, z.B. die "infantile Sexualität". In meinem Buch "Du sollst nicht merken" habe ich das nicht nur behauptet, sondern auch mit Beispielen belegt. Nun häufen sich auch Berichte der Medien, die meine Vermutungen bestätigen. Es ist nicht leicht, eine solche Erkenntnis allein zu integrieren, ohne die Stütze einer Gruppe, und die Gruppe hält ja am etablierten Wissen fest. Mit diesem etablierten Wissen verbündet sich auch der Analytiker, und der Leidtragende ist natürlich der Patient, wie bei den Eltern das Kind.
Und doch ist es schwer zu begreifen, dass Ihre Einsichten gerade für Psychoanalytiker so schwer nachvollziehbar sind. Diese Menschen müssten doch das Unbewusste kennen und besser als andere verstehen, worüber sie sprechen.
Jetzt muss ich etwas sagen, was Ihnen möglicherweise Mühe machen wird; es dauerte auch lange, bis ich das verstanden habe. In der analytischen Ausbildung lernt man nicht, sich zu fragen, was man selber fühlt, sondern man lernt, sich zu fragen, was der andere fühlt. Und wenn er das nicht fühlt, was man meint, dass er müsste, sagt man es ihm. So lernt der Kandidat bei seinem Lehranalytiker wie man über Gefühle spricht, ohne sie wirklich erleben zu müssen. Ein wichtiges Sensorium und eine wichtige Orientierungshilfe bleiben daher unentwickelt. Meine Bücher konfrontieren den Leser mit seinen eigenen Gefühlen. Wenn er diese nicht zulassen kann oder darf, muss er die Bücher ablehnen, denn er steht hilflos, ohne jede innere Ausrüstung einer Gefahr gegenüber, z.B. der Gefahr, auf seine Eltern oder Lehrer wütend zu werden. Und das weckte die Angst des kleinen Kindes in ihm.
Auch Sie haben in Ihren Büchern über Gefühle anderer Menschen geschrieben. Zeigt sich in Ihren Büchern nicht auch die psychoanalytische Haltung, die Sie jetzt beschrieben haben? Das Kapitel über Kafkas Leiden in "Du sollst nicht merken" bringt den Menschen Kafka dem Leser so nahe, dass er dabei weinen könnte. Sogar das Kapitel über den Kindermörder Bartsch weckt im Leser Mitgefühl und Trauer. Das hätten Sie nicht schreiben können, wenn Sie sich nicht in andere Menschen hätten einfühlen können, ja Sie taten es sogar mit dem Kind Adolf Hitler. Aber nirgends schrieben Sie ein Kapitel über sich selbst, über Alice Miller.
Das kann man so sehen und z. T. sehe ich es auch so. Die Spuren 20-jähriger analytischer Tätigkeit sind in meinen Büchern nicht zu übersehen. Doch ich meine, dass diese Spuren den schwerfälligsten Teil meiner Bücher darstellen. Als ich sie schrieb, dachte ich immer noch in den psychoanalytischen Kategorien, die mir vertraut waren. Aber zugleich hörte ich in mir immer deutlicher die Stimme des Kindes, die diesen Theorien misstraute. Je mehr ich mich seinen unbestechlichen Wahrnehmungen und Beobachtungen anvertraute, umso schneller sank das Gedankengebäude zusammen, das ich nun auch mit meinem erwachsenen Teil als falsch und irreführend erkannte.
Wenn Sie sagen, dass Sie diesen Prozess dem Kind in Ihnen verdanken, müsste es eigentlich gar nicht so schwer sein, einem Laien zu erklären, worin dieser Prozess bestand. Wäre es Ihnen z.B. jetzt möglich zu sagen, was Sie an psychoanalytischen Theorien eindeutig ablehnen?
Ja, das kann ich Ihnen sagen, und ich glaube, dass es sich um etwas handelt, das für jeden Menschen eine weittragende Konsequenz hat.
Meine größte Enttäuschung an der Psychoanalyse erlebte ich, als ich realisierte, dass auch sie, wie die ganze Gesellschaft, das Kind betrügt. Bis zum 20. Jahrhundert, oder genauer etwa bis vor 20 Jahren, war es gar nicht bekannt, in welchem Maße die Kinder seit Jahrtausenden ausgebeutet wurden. Es ist sehr schwer, darüber zu sprechen, weil den meisten Menschen diese Tatsache noch gar nicht bekannt ist. Aber nehmen Sie ein Beispiel aus der Ökologie. Wir wissen jetzt, dass wir die Natur ausgebeutet haben, dass wir unsere Luft und das Trinkwasser mit Chemie und radioaktiven Strahlen so weit zerstören, dass diese unsere Umwelt mit der Zeit nur noch eine Bedrohung für uns bedeuten könnte, wenn es so weiter geht. Etwas Ähnliches tat man bisher mit den Kindern, ohne es zu wissen. Wir haben kleine Kinder für unsere Bedürfnisse gebraucht, missbraucht, gequält, wir nannten das Erziehung und Liebe, dann haben wir sie bestraft, wenn sie schlecht darauf reagierten, und schließlich, als diese Kinder Erwachsene wurden, taten sie das Gleiche mit ihren Kindern, und niemand durfte etwas davon merken. Die Ausbeutung blieb unbemerkt, weil das Objekt der Ausbeutung in der nächsten Generation zum Ausbeuter selber wurde, und alles konnte geheim bleiben. Nun aber hat sich im 20. Jahrhundert herausgestellt, dass die Quälereien in der Kindheit nicht vergessen werden, sondern im Unbewussten des Erwachsenen psychische Krankheitssymptome produzieren. Im Zeitalter des Computers ist es eigentlich keine Überraschung, dass alle Informationen, die ein Kind erhält, nicht ohne Wirkungen in ihm bleiben. Und trotzdem ist der naive Glaube der Pädagogen heute noch sehr verbreitet, nämlich der Glaube, dass das Kind die guten Absichten des Erziehers aufnimmt und zum Guten verarbeitet, während es die grausamen Taten vollständig vergisst, so dass sie keine Wirkungen haben. Kein Mensch würde von einem Computer erwarten, dass er nur moralische Informationen speichert und andere, z.B. grausame, einfach vernichtet, weil man normalerweise annimmt, dass jede Information im endgültigen Resultat irgendwie verwertet wurde. Aber vom menschlichen Gehirn nimmt man das ohne Schwierigkeiten an, auch wenn man gebildet ist. Die meisten Menschen glauben, dass das, was sie ihren Kindern beibringen MÖCHTEN, nämlich Liebe, Güte, Barmherzigkeit, Toleranz, Altruismus, sich der kindlichen Psyche einprägen wird und glauben zugleich, dass das, was man dem Kind an Grausamkeit, Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Manipulation und Lüge zukommen lässt, wirkungslos bleiben wird, sofern es moralischen Zwecken dient. Dieser Glaube beruht auf einem Wunschdenken und spottet jeder Logik und Erfahrung; besonders wenn man mit dem Kind im Unbewussten des Erwachsenen in Berührung gekommen ist, weiß man, wie schwerwiegend und nachhaltig die Traumen der frühen Kindheit im Verhalten und Leben des Erwachsenen weiter wirken.
Und nun komme ich zum Thema, das ich scheinbar verlassen habe, nämlich zu meiner Enttäuschung an der Psychoanalyse. Ich hatte angenommen, dass die Psychoanalyse der Ort sein müsste, wo der Verrat des Kindes in unserer Kultur und damit deren Selbstzerstörung aufgedeckt werden könnte. Doch nichts dergleichen ist geschehen, im Gegenteil. Nachdem Freud den schweren Kindheitstraumen in den Symptomen der Patienten begegnet ist, entwickelte er eine Theorie von der infantilen Sexualität, die die bisherige Haltung der Gesellschaft, nämlich die Bekämpfung des Kindes, unterstützte. Als ich das entdeckte und versuchte, dieses Wissen mit meinen Kollegen zu teilen, erlebte ich einige Überraschungen. Achtzigjährige Herren wussten plötzlich zu berichten, dass "Kinder ihre Sexualität maximal genießen". Diese Behauptungen wurden im Jahre 1984 geäußert und stützten sich auf die Schriften Sigmund Freuds der Jahrhundertwende. Allerdings, als ich um die Erlaubnis bat, diese Behauptungen publizieren zu dürfen, erhielt ich sie nicht. Ich wurde nur auf Freuds Schriften der Jahrhundertwende hingewiesen.
Sie scheinen sich das noch sehr zu Herzen zu nehmen, was diese alten Herren behaupten, aber vielleicht nimmt das niemand mehr ernst. Max Planck sagte einmal: "Damit die falschen Theorien aufgegeben werden können, müssen nicht nur die alten Professoren, sondern auch ihre Studenten aussterben". Es ist also vielleicht nur eine Frage der Zeit.
Ja, da mögen Sie Recht haben, und weil Sie 20 Jahre jünger sind als ich, fällt es Ihnen leichter, hier gelassen zu bleiben. Ich bin jetzt 61 Jahre alt und möchte natürlich noch zu meinen Lebzeiten sehen, dass die falschen und irreführenden Theorien nicht mehr in Instituten gelehrt werden, damit nicht eine neue Generation verwirrter und verwirrender Analytiker aufwachsen muss. Ich wäre auch gelassener, wenn es sich um irgendwelche Theorien handeln würde, die für die Menschheit unschädlich wären, z.B. irgendwelche astronomische Hypothesen oder Ähnliches. Aber die psychoanalytische Triebtheorie hat Konsequenzen, die zu einem inhumanen Verhalten dem Patienten gegenüber führen müssen. Denn es ist inhuman, einem Menschen, der als Kind missbraucht wurde und dies noch kaum fassen kann, damit zu verunsichern, dass seine Erinnerungen als Phantasien gedeutet werden. Statt sich dem Opfer als Zeuge zur Verfügung zu stellen, solidarisiert sich der Psychoanalytiker mit der Gesellschaft und den Eltern gegen das ehemalige Kind im Patienten und lässt diesen im Stich. Das nenne ich inhuman.
Wenn Sie das so sagen, so ohne alle Umschweife und so direkt, kann ich verstehen, dass Sie den Psychoanalytikern ein Dorn im Auge sind. Dieser Stil ist unter Analytikern unüblich. Ich habe mit mehreren Analytikern gesprochen, und es fiel mir auf, dass sie sich kaum auf etwas eindeutig festlegen. Als ich sie bei ihrer persönlichen Meinung festzuhalten versuchte, wichen sie mir aus in verschiedene Relativierungen. Eindeutig waren sie nur, wenn sie unpersönliche Behauptungen aufstellten, die auf Freuds Schriften zurückgingen. Aber ich muss zugeben, dass diese Auswahl einseitig war. Es handelte sich vorwiegend um orthodoxe Psychoanalytiker.
Vor einigen Jahren hätte ich Ihnen zu diesem Punkt gesagt, dass Sie ein sehr verzerrtes Bild der Psychoanalytiker haben und dass ich sehr viele unter ihnen kenne, die beweglich sind und offen bleiben für neue Gedanken. Doch in den letzten Jahren musste ich erfahren, dass diese Beweglichkeit ausgerechnet da versagt, wo es sich für mich um das Entscheidende handelt, nämlich um die Empathie und das Verständnis für das kleine Kind, für das, was ihm angetan wurde. Wenn man dieses Thema zur Sprache bringt, scheinen alle psychoanalytischen Ohren auf einmal taub zu werden und diesen Funktionsausfall mit einer Verstärkung der dogmatischen Haltung zu kompensieren. Sie halten fest an der Vorstellung, der Patient könne doch auch Traumen "erfinden" und wir können nicht wissen ob das, was er erzählt, wirklich stattgefunden hätte.
Ich muss gestehen, dass ich mir diese Frage auch immer wieder stelle. Wie können Sie mit Sicherheit wissen, dass ein Mensch nicht lügt, wenn er Ihnen erzählt, dass er als Kind missbraucht wurde?
Weil ich aus unzähligen Beobachtungen und eigenen Erfahrungen weiß, dass ein Kind lieber die schlimmsten Qualen bei den eigenen Eltern über sich ergehen lässt, als die Eltern zu verraten. Weil ich aus Hunderten von Fallgeschichten weiß, wie schwer es jetzt die offeneren Therapeuten haben, wenn sie ihre Patienten auf dem Weg aus der Idealisierung der Eltern zu der oft grauenhaften Wahrheit begleiten möchten.
Ich weiß z.B. zu wenig über die Casriel-Methode. Im Buch "Du sollst nicht merken" habe ich meine Bedenken beschrieben und erhielt darauf die Bestätigung eines Therapeuten, der diese Methode ausübt. Aber ich würde sagen, dass jetzt verschiedene Methoden entwickelt wurden (Primärtherapie, Körpertherapien verschiedener Art, Bioenergetik usw.), in denen sich die Wahrheit der Kindheit nicht mehr zudecken lässt, wie dies noch in der Psychoanalyse möglich war.
Und nun ist es entscheidend, ob die Therapeuten dieser Entdeckung standhalten können oder wiederum versuchen, die Wahrheit dem Patienten auszureden. Leider kommt auch dies vor, weil die erzieherische Tendenz, die Eltern zu schonen und das Kind zu beschuldigen, in unserer Kultur so allgegenwärtig ist, dass sie sich erst vermindern wird, wenn sie ausdrücklich reflektiert wurde.
Die Idee, ein Kind erfinde seine Traumen, die man Phantasien nennt, ist der unmittelbare Nachfolger des pädagogischen Glaubens, dass Kinder von Natur aus lügen und dass sie erst von den Erwachsenen zur Wahrhaftigkeit erzogen werden müssten. Im Grunde ist es doch umgekehrt: Kinder werden sehr oft belogen, und man verlangt von ihnen, dass sie dies übersehen. Aber sie selber sind ja zu direkt und offen, um zu lügen. Erst wenn sie feststellen, dass sie für die Wahrheit bestraft werden und für die Lüge nicht, fangen sie an, sich der Erwachsenenwelt, der Lüge, anzupassen.
Aber die Psychoanalytiker haben ja mit erwachsenen Patienten zu tun, und sie meinen, diese könnten doch Traumen erfinden, um z.B. Mitleid zu bekommen oder um sich wichtig zu machen, sich interessanter darzustellen, als sie sind.
Könnten Sie sich vorstellen, dass ein Mensch in die Bäckerei einbricht und sich ein Brot holt, wenn er keinen Hunger hat? Jemand, der Geschichten erfindet, um sich interessant zu machen und Mitleid zu bekommen, braucht dieses Mitleid und braucht die Versicherung, dass jemand endlich sein Schicksal ernst nimmt. Und DAS ist die Wahrheit. Ob die Geschichte, die er erzählt, sich so und nicht anders zugetragen hat, kann man erst mit ihm herausfinden, wenn man ihm das Vertrauen eben nicht verweigert und ihn ernst nimmt. Eines ist aber sicher, dass die erfundene Geschichte harmloser sein wird als die wahre, denn bis er an diese herankommen kann, muss sehr viel zunächst geschehen. Es muss sehr viel Vertrauen in der therapeutischen Beziehung gewachsen sein, und die Fähigkeit, Schmerzen zu ertragen, muss sich vorher etabliert haben. Es ist also nicht nur Unsinn, sondern es ist ein erbarmungsloses Verhalten, wenn man behauptet, Patienten phantasieren ihre Traumen und dramatisieren belanglose Ereignisse ihrer Kindheit über alle Maße.
Solche Äußerungen habe ich öfters gehört und gelesen und ich bin sehr froh, dass wir darüber gesprochen haben. Sie haben das zwar in Ihren 2l Punkten unter der Nummer 15 formuliert, aber ich war nicht sicher, ob ich das richtig verstanden habe; erst jetzt wird es mir klar. Jetzt verstehe ich auch, warum so viele Kinder-Therapeuten, besonders jungianischer Richtung, in der symbolischen Sprache bleiben möchten. Das Kind kann dann ein Stück weit sein Trauma in der Phantasiewelt und in der Symbolsprache zum Ausdruck bringen und zugleich die Eltern schonen. Und der Therapeut hilft ihm dabei. Ist das aber nicht ein legitimer Weg?
Natürlich. Jeder Weg ist gut, auf dem das Kind die Möglichkeit bekommt, sich zu artikulieren und einen Zuhörer und Zuschauer dabei zu bekommen. Doch wenn es in einer verlogenen Atmosphäre zuhause lebt, die kaum zu ertragen ist, und es DAHER Symptome entwickelt, ist es auf einen Therapeuten angewiesen, der keine Angst davor hat, hinter den lieben Zwerglein und dem bösen Teufel die Realität des Kindes zu sehen und ihm beizustehen. Natürlich kann eine Symptombesserung eintreten, nachdem das Kind seine Konflikte auf der symbolischen Ebene ausgetragen hat. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Wirkung von schweren Traumen damit behoben wird und nicht in späteren Jahren noch einmal zum Vorschein kommt.
In dem, was Sie sagten, steckt eine große Portion Kritik an der jungschen Therapieform; ich meinte, dass gerade Jungianer mehr von Ihnen aufnehmen konnten als die Freudianer.
Nach dem "Drama des begabten Kindes" sah das so aus. Viele Jungianer schrieben mir, wie sehr sie dieses Buch schätzten und dass sie eigentlich "ganz" mit mir einverstanden seien. Ich meinte dann: "Warten Sie nur ab, bis die anderen beiden Bücher erschienen sind, ich glaube nicht, dass Sie mir Ihr Einverständnis dann noch so leicht geben werden". Seitdem habe ich nicht viel gehört, aber ich vermute, dass schon die pädagogischen Texte, die ich im zweiten Buch zitiere, die Begeisterung für meine Bücher abgedämpft haben. In diesen Texten fühlen sich die Menschen mit ihren eigenen Eltern und Grosseltern konfrontiert, und manche erleben den Horror, den sie bisher mit allerlei pädagogischen und therapeutischen Ideen abgewehrt haben. Doch in meinem Buch begegnen sie auch der eigenen Abwehr und können nicht mühelos weiter so machen. Sie fühlen sich verunsichert, verärgert und dürfen die Schuldigen nicht schuldig sprechen, also nehmen sie mich an deren Statt.
Das ist mir schon öfters aufgefallen. Viele sind Ihnen einfach böse, dass Sie nicht endlich schweigen, dass Sie nicht aufhören, etwas aufzuzeigen, was ihnen wehtut, um sie zu schonen und sie vor Schmerzen zu bewahren. Das ist eigentlich begreiflich.
Ja, natürlich ist es begreiflich, und ich wäre froh, ich müsste es nicht tun. Aber das hieße, zuzulassen, dass die Welt weiter so macht wie bisher, dass die Eltern weiter ihre Kinder schlagen und die Sicherheit nicht verlieren, dass die Kinder das Schlagen brauchen. Ich halte diese Forderung, die oft an mich gestellt wird, auch für inhuman. Neulich schrieb mir eine Krankenschwester, die in einer Kinderkrippe arbeitet, sie hätte keine Möglichkeit, die Eltern davon abzuhalten, ihre kleinen Kinder zu schlagen, denn die Kinder gehören den Eltern. Sie frage mich aber, wozu es gut sein soll, solche Bücher zu schreiben, wie ich es tue, wenn ich doch keine Hilfe anbieten kann. Ich würde nur die Leute verunsichern, sie betroffen machen und dann alleine damit lassen. Ich glaube, dass diese Schwester etwas ausgedrückt hat, was viele Menschen so empfinden. Das kann ich verstehen, trotzdem bezeichne ich ihre Forderung als inhuman. Denn die Wahrheit zu verschweigen, damit niemand in seinem üblen Tun verunsichert werde, eine solche Forderung kann nur einer verlogenen Moral entspringen. Sie hilft, die Angst vor Verantwortung hinter der Pseudobarmherzigkeit zu verbergen. Wenn diese Schwester tatsächlich zweimal "Am Anfang war Erziehung" gelesen hat, was sie behauptete, könnte sie schon durch ihr Zeugnis, dank ihrem Wissen, einem Kind möglicherweise das Leben retten, weil sie aus dem Buch erfahren hat, welche Konsequenzen das Schlagen hat. Doch dieser Gedanke kommt gar nicht in ihr auf. Stattdessen greift sie mich an, weil ich gewagt habe, die Prinzipien ihres Vaters, ihrer Mutter, ihres Lehrers, ihres Pfarrers, in Frage zu stellen. Und das geschlagene Kind in der Krippe bleibt ihr unwichtig. Das ist der Lauf der Dinge, diese Haltung bezeichnen die Menschen als höhere Moral und sind stolz darauf.
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