Offener Brief an alle verantwortlichen Politiker
Mai 2000
Nach den neuesten Presseberichten hat die britische Regierung ein Gesetz verabschiedet, das zwar den Eltern verbieten soll, ihre Kinder mit Instrumenten und auf den Kopf zu schlagen, aber es ihnen ansonsten erlaubt, aus erzieherischen Gründen die Kinder zu prügeln, zu ohrfeigen und ihnen Klapse zu verabreichen - unabhängig vom Alter. Diese alarmierende Information bewog mich dazu, diesen Brief zu verfassen, weil die Praxis, Kinder zu schlagen, schwerwiegende politische Konsequenzen hat, die bisher nur wenig Menschen erkannt haben.
Heute, am Beginn des neuen Milleniums, wird kaum jemand behaupten, man solle Kinder misshandeln und demütigen, aber die große Mehrheit der Menschheit ist noch davon überzeugt, dass Schläge, Klapse und Ohrfeigen geeignete, wirksame und harmlose Mittel der Erziehung seien. Die weltweit verbreitete Meinung, dass man Kindern zur Not mit Hilfe der Gewalt "den Unterschied zwischen gut und böse" beibringen müsse, ist so alt wie unsere Zivilisation, aber dennoch falsch und irreführend, wie es neue Forschungen beweisen (z.B. die des Gehirnforschers Dr. Bruce D. Perry). Das Schlagen der Kinder enthält immer eine Demütigung und ist eine Form der Sklaverei. Es ist auch erzieherisch unwirksam, weil es Angst erzeugt; und kein Mensch kann im Zustand der Angst positives Verhalten lernen.
Dennoch - Kinder lernen sehr gut aus Beispielen. Wenn wir also Kinder schlagen, bringen wir ihnen genau das bei, was wir nicht wollen: Gewalt zu akzeptieren und sie selbst auszuüben.. Sie lernen schnell, das zu tun, was wir einst getan haben: sich der stärkeren Person zu unterwerfen, aus Angst zu gehorchen und den Schmerz der Erniedrigung zu verdrängen. Dann, etwa zwanzig Jahre später, verbergen sie ihre eigene Schwäche hinter Gewalt und halten die Behauptung aufrecht, dass das Prügeln von Kindern richtig sei. Sie widerstehen allen logischen Argumenten, bezeichnen sie als Verweichlichung, und sie schlagen weiterhin ihre eigenen Kinder (oder schädigen sich selbst), ohne an der Richtigkeit ihres Tuns im geringsten zu zweifeln. Ihr Bemühen, das Leiden in ihrer eigenen Kindheit nicht zu fühlen, hindert sie daran, zu erkennen, dass das Schlagen von Kindern jeden Alters eine Demütigung ist - wenn ihnen nicht ein Gesetz ausdrücklich das Züchtigen der eigenen Kinder verbietet und ihnen vielleicht sogar die Augen öffnet.
Wenn man Erwachsene fragt, warum sie in der Kindheit geschlagen wurden, wissen sie es kaum, sie sagen meistens wage: "Ich war ein schwieriges Kind, habe meine Eltern zur Verzweiflung gebracht, sie waren wirklich überlastet durch meine Art." Diese Menschen erinnern sich selten an die konkreten Anlässe der Bestrafung, sie haben kaum irgendwelche konstruktiven Lehren daraus gezogen, weil sie im verängstigten Zustand keine Erinnerung an den Anlass der Strafe behalten konnten. Es blieb nur die Angst vor den Eltern, nicht aber vor Gefahren, vor denen die Eltern sie mit Strafen warnen wollten. Aber jetzt, entgegen jeder Logik, erwarten sie selbst schon von ihren kleinsten Kindern, dass die mit Schlägen verabreichten Lehren von ihnen beherzigt werden. Auch Politiker sind Eltern, und viele von ihnen verfallen auch diesem Irrtum. Viele realisieren noch nicht, dass Kinder durch ein entsprechendes Gesetz geschützt werden müssen.
Wir können nicht unsere Eltern und Großeltern beschuldigen, uns irreführende Botschaften übermittelt zu haben, weil sie, zu ihrer Zeit, keine besseren Informationen zur Verfügung hatten. Aber wir haben sie heute. Wir können nicht Unschuld für uns beanspruchen, wenn uns die nächste Generation dafür anklagt, dass wir verfügbare Informationen ignoriert haben. Eine verantwortliche Regierung kann nicht angesichts der neuen wissenschaftlichen Entdeckungen noch untätig bleiben. Schäden in der Gehirnstruktur der geschlagenen Kinder können schon auf dem Computerbildschirm gesehen werden.
Gewalt an Kindern schafft eine gewalttätige und kranke Gesellschaft. Die wahre Autorität lehnt Demütigung ab. Ihre Erziehungsprinzipien beruhen auf Zuhören und miteinander Sprechen, auf dem Wissen, dass Vertrauen verdient werden muss und dass wir dem Schwächeren Achtung und Schutz schulden. Kinder brauchen eine solche Begleitung, um zu verantwortlichen Menschen heranzuwachsen. Sie werden ihre Gefühle in Worte fassen können und nicht, wie es manche geschlagenen Kinder tun, ihre verdrängte Wut und Ohnmacht in Racheakten wie Kriege und Diktaturen ausleben. Sie werden einfach anderen das geben können, was sie selber einst erhalten und was sie an Beispielen gelernt haben: Schutz und Respekt.
Alice Miller
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