Alice Miller, Kindesmisshandlung, Kindesmissbrauch

DIE KINDHEIT ADOLF HITLERS
VOM VERBORGENEN ZUM MANIFESTEN GRAUEN

"Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muß weggehämmert werden. In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. Jugend muß das alles sein. Schmerzen muß sie ertragen. Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muß erst wieder aus ihren Augen blitzen. Stark und schön will ich meine Jugend. . . So kann ich das Neue schaffen."
—Adolf Hitler

Einleitung

Der Wunsch, über Adolf Hitlers Kindheit Näheres zu erfahren, tauchte bei mir erst beim Schreiben dieses Buches auf und überraschte mich nicht wenig. Der unmittelbare Anlaß dazu war der Gedanke, daß meine auf Grund der analytischen Behandlungen gewonnene Überzeugung von der reaktiven (und nicht angeborenen) Herkunft der menschlichen Destruktivität am Fall von Adolf Hitler gegebenenfalls eine Bestätigung erführe oder, wenn Erich Fromm u. a. recht behalten sollten, völlig in Frage gestellt werden müßte. Das Ziel war für mich wichtig genug, um diesen Schritt zu machen, obwohl ich zunächst sehr daran gezweifelt habe, daß es mir möglich sein würde, diesem Menschen, den ich für den größten mir bekannten Verbrecher halte, mit Empathie zu begegnen. Die Empathie, d. h. hier der Versuch, ein Kinderschicksal vom kindlichen Erlebnis heraus nachzufühlen und es nicht mit den Augen der erzogenen Erwachsenen zu beurteilen, ist mein einziges Instrument des Verstehens, und ohne sie wäre die ganze Untersuchung sinn- und zwecklos. Ich war froh, als ich merkte, daß es mir gelungen ist, der Sache zuliebe dieses Instrument nicht zu verlieren und Hitler als Menschen zu sehen.
Dabei mußte ich mich von der überlieferten, idealisierenden und auf Abspaltung und Projektion des Bösen beruhenden Kategorie des "Menschlichen" befreien und einsehen, daß Menschsein und "Bestie" einander nicht ausschließen (vgl. Fromm-Zitat S. 208). Kein Tier steht unter dem tragischen Zwang, noch nach Jahrzehnten früh erfahrene, narzißtische Kränkungen rächen zu müssen, wie wir das z. B. am Leben Friedrichs des Großen beobachten können. Jedenfalls sind mir das Unbewußte und die Geschichtlichkeit des Tieres nicht genug bekannt, um darüber Aussagen zu machen. Mir ist die extremste Bestialität bisher nur im menschlichen Bereich begegnet, daher kann ich nur in diesem Bereich ihren Spuren nachgehen und nach den Gründen fragen. Auf dieses Fragen kann ich aber nicht verzichten, solange ich mich nicht zum Instrument der Grausamkeit, d. h. zu ihrem ahnungslosen (und daher zwar schuldfreien, aber blinden) Träger und Vermittler machen lassen will.
Wenn wir dem Unfaßbaren den Rücken kehren und es entrüstet als "unmenschlich" bezeichnen, versagen wir uns dessen Kenntnis. So kommen wir leichter in Gefahr, es beim nächstenmal in aller Unschuld und Naivität wieder zu unterstützen.

In den letzten 35 Jahren erschienen unzählige Publikationen über das Leben Adolf Hitlers. Ich habe zweifellos mehrere Male gehört, daß Hitler von seinem Vater geschlagen wurde, habe es auch vor einigen Jahren in der Monographie von Helm Stierlin gelesen, ohne daß mich diese Information näher berührt hätte. Seitdem ich mich aber für die Erniedrigungen des Kindes in den ersten Lebensjahren sensibilisiert habe, bekam die frühere Information ein viel größeres Gewicht für mich. Ich stellte mir die Frage: Wie war die Kindheit dieses Menschen beschaffen, eines Menschen, der sein ganzes Leben vom Haß besessen war und dem es so leicht gelungen ist, andere Menschen in diesen Haß hineinzuziehen? Dank der Lektüre der Schwarzen Pädagogik und den Gefühlen, die in mir dadurch wach wurden, konnte ich mir plötzlich vorstellen und konnte fühlen, was sich in der Wohnung der Familie Hitler abgespielt hat, als Adolf Hitler ein kleines Kind war. Der frühere Schwarzweiß-Film verwandelte sich in einen farbigen, der sich allmählich mit meinen eigenen Erlebnissen des letzten Weltkrieges so verwob, daß er aufhörte, ein Film zu sein, und zum Leben wurde, zu einem Leben, das nicht nur irgendwo und irgendwann einmal stattgefunden hat, sondern in seinen Konsequenzen und der Möglichkeit der Wiederholungen uns alle, so scheint es mir, auch hier und jetzt betrifft. Denn die Hoffnung, daß es auf die Dauer gelingen sollte, den nuklearen Untergang der Menschheit mit Hilfe von vernünftigen Abkommen abzuwenden, entspricht im Grunde einem irrationalen Wunschdenken und widerspricht jeglicher Erfahrung. Spätestens im Dritten Reich, wenn nicht schon wiederholt früher, konnten wir erleben, daß die Vernunft nur ein kleiner Teil des Menschen ist und nicht einmal der stärkste. Es genügte der Wahn eines Führers, es genügten einige Millionen gut erzogener Bürger, um in wenigen Jahren das Leben unzähliger unschuldiger Menschen auszulöschen. Wenn wir nicht alles tun, um das Entstehen dieses Hasses zu verstehen, werden uns auch die kompliziertesten strategischen Abkommen nicht retten können. Die Ansammlung von Nuklearwaffen ist nur ein Symbol für die aufgestauten Haßgefühle und die damit zusammenhängende Unfähigkeit, die echten Bedürfnisse wahrzunehmen und zu artikulieren.

Am Beispiel der Kindheit von Adolf Hitler läßt sich die Entstehungsgeschichte eines Hasses untersuchen, unter dessen Auswirkungen Millionen von Menschen zu leiden hatten. Die Qualität dieses zerstörerischen Hasses ist den Psychoanalytikern längst bekannt, doch wird man von der Psychoanalyse vergeblich Hilfe erwarten, solange diese ihn als Ausdruck des Todestriebes versteht. Auch die Nachfolger von Melanie Klein, die den frühkindlichen Haß zwar sehr genau beschreiben, aber ihn als angeboren (triebhaft) und nicht reaktiv deuten, bilden hier keine Ausnahme. Am ehesten nähert sich Heinz Kohut dem Phänomen dieses Hasses - mit seinem Begriff der narzißtischen Wut, den ich mit der Reaktion des Säuglings auf die Nichtverfügbarkeit des primären Objektes in Zusammenhang gebracht habe (1979).
Aber um die Entstehung eines lebenslangen, unersättlichen Hasses, wie er Adolf Hitler beherrschte, zu verstehen, muß man einen Schritt weiter gehen. Man muß den vertrauten Boden der Triebtheorie verlassen und sich der Frage öffnen, was sich in einem Kind abspielt, das einerseits von seinen Eltern gedemütigt und erniedrigt wird und andererseits unter dem Gebot steht, die Person, die ihm das antut, zu respektieren, zu lieben und seine Schmerzen auf keinen Fall zum Ausdruck zu bringen. Obwohl man etwas dergleichen Absurdes kaum von einem Erwachsenen erwarten würde (außer in ausgesprochen sado-masochistischen Beziehungen), erwarten Eltern gerade das in den meisten Fällen von ihren Kindern, und sie wurden in den früheren Generationen selten in dieser Erwartung enttäuscht. In diesem ersten Lebensalter ist es noch möglich, die schlimmsten Grausamkeiten zu vergessen und den Angreifer zu idealisieren. Doch die Art der späteren Inszenierung verrät, daß die ganze Geschichte der frühkindlichen Verfolgung irgendwo aufgespeichert wurde, sie entfaltet sich nun vor den Zuschauern mit einerunerhörten Präzision, nur unter anderen Vorzeichen: das einst verfolgte Kind wird in der Neuinszenierung selber zum Verfolger. In der psychoanalytischen Behandlung spielt sich die Geschichte innerhalb der Übertragung und Gegenübertragung ab.
Wenn sich die Psychoanalyse einmal von ihrer Bindung an die Annahme des Todestriebes befreien würde, könnte sie dank dem vorhandenen Material über die frühkindliche Konditionierung sehr viel Wesentliches zur Friedensforschung beitragen. Doch leider zeigen die meisten Psychoanalytiker kein Interesse für die Frage, was Eltern mit ihren Kindern taten und überlassen diese Frage den Familientherapeuten. Da diese wiederum nicht mit der Übertragung arbeiten und sich vor allem auf Änderungen in der Interaktion zwischen den Familienmitgliedern konzentrieren, erreichen sie selten den Zugang zu dem frühkindlichen Geschehen.

Um zu zeigen, wie sich die frühe Erniedrigung, Mißhandlung und psychische Vergewaltigung eines Kindes in seinem ganzen späteren Leben äußern, würde es genügen, die Geschichte einer einzigen Analyse ganz minuziös nachzuerzählen. Doch dies ist aus Diskretionsgründen eher unmöglich. Hitlers Leben wurde indessen bis auf den letzten Tag von sehr vielen Zeugen so genau beobachtet und protokolliert, daß man an diesem Material unschwer die Inszenierungen der frühen Kindheitssituation aufweisen kann. Außer den Zeugenaussagen und den historischen Taten, in denen sich sein Handeln dokumentierte, hat sich sein Denken und Fühlen, wenn auch verschlüsselt, in den zahlreichen Reden und in seinem Buch Mein Kampf artikuliert. Es wäre eine ungemein aufschlußreiche und lohnende Aufgabe, Hitlers ganze politische Aktivität im Zusammenhang mit seiner frühkindlichen Verfolgungsgeschichte verständlich zu machen. Doch diese Aufgabe würde den Rahmen dieses Buches sprengen, weil es mir hier nur um Beispiele für die Wirksamkeit der "Schwarzen Pädagogik" geht. Deshalb werde ich mich auf einige wenige Punkte dieser Lebensgeschichte beschränken, wobei ich bestimmten Erlebnissen aus der Kindheit, die bisher von Biographen wenig beachtet wurden, eine ganz besondere Bedeutung beimesse. Da sich die Historiker von Berufs wegen mit äußeren Tatsachen und die Psychoanalytiker mit dem Ödipuskomplex befassen, scheinen sich bisher wenige ernsthaft die Frage gestellt zu haben: Was hat dieses Kind empfunden, was hat es in sich gespeichert, als es von klein auf täglich von seinem Vater geschlagen und erniedrigt wurde?

Aufgrund der vorhandenen Dokumente kann man sich unschwer ein Bild von der Atmosphäre machen, in der Adolf Hitler aufgewachsen ist. Die Struktur seiner Familie ließe sich wohl als Prototyp des totalitären Regimes charakterisieren. Sein einziger, unumstrittener, oft brutaler Herrscher ist der Vater. Die Frau und die Kinder sind seinem Willen, seinen Stimmungen und Launen total unterworfen, müssen Demütigungen und Ungerechtigkeiten fraglos und dankbar hinnehmen; Gehorsam ist ihr wichtigstes Lebensprinzip. Die Mutter hat zwar ihren Bereich im Haushalt, in dem sie, wenn der Vater nicht zu Hause ist, den Kindern gegenüber Herrscherin ist, d. h. sich teilweise für die erlittenen Demütigungen an noch Schwächeren entschädigen kann. Im totalitären Staat kommt diese Funktion etwa der Sicherheitspolizei zu, es sind die Sklavenwächter, die selber Sklaven sind, die die Wünsche des Diktators ausführen, ihn in seiner Abwesenheit repräsentieren, in seinem Namen Angst einflößen, Strafen erteilen, sich zu Herrschern der Rechtlosen aufspielen.
Die Rechtlosen sind die Kinder. Falls nach ihnen kleinere kommen, gibt es da noch ein Feld, wo die eigenen Demütigungen abreagiert werden können. Sobald noch schwächere, noch hilflosere Wesen vorhanden sind, ist man nicht der letzte Sklave. Manchmal aber, wie im Falle von Christiane F., steht man als Kind weit unter dem Hund, denn der Hund braucht nicht geschlagen zu werden, wenn doch schon das Kind dafür da ist.
Diese Rangordnung, wie wir sie z. B. an der Organisation der KZ-Lager (mit Wärtern, Kapos usw.) genau studieren können, von der "Schwarzen Pädagogik" völlig legitimiert, wird vielleicht immer noch in manchen Familien eingehalten. Was sich daraus bei einem begabten Kind ergeben kann, läßt sich am Fall von Adolf Hitler an vielen Einzelheiten verfolgen.

Der Vater - sein Schicksal und die Beziehung zum Sohn

Über die Herkunft und das Leben Alois Hitlers vor Adolfs Geburt berichtet Joachim Fest folgendes:

Im Hause des Kleinbauern Johann Trummelschlager in Strones Nr. 13 brachte die ledige Magd Maria Anna Schicklgruber am 7. Juni 1837 ein Kind zur Welt, das noch am gleichen Tag auf den Namen Alois getauft wurde. Im Geburtenbuch der Gemeinde Döllersheim blieb die Rubrik, die über die Person des Kindesvaters Auskunft gibt, unausgefüllt. Daran änderte sich auch nichts, als die Mutter fünf Jahre später den stellungslosen, "vazierenden" (? AM) Müllergesellen Johann Georg Hiedler heiratete. Vielmehr gab sie ihren Sohn im gleichen Jahr zum Bruder ihres Mannes, dem Bauern Johann Nepomuk Hüttler aus Spital vermutlich nicht zuletzt, weil sie fürchtete, das Kind nicht gehörig aufziehen zu können; jedenfalls waren die Hiedlers, der Überlieferung nach, so verarmt, daß sie "schließlich nicht einmal mehr eine Bettstelle hatten, sondern in einem Viehtrog schliefen".
Mit den beiden Brüdern, dem Müllergesellen Johann Georg Hiedler und dem Bauern Johann Nepomuk Hüttler, sind zwei der mutmaßlichen Väter Alois Schicklgrubers benannt. Der dritte ist, einer eher abenteuerlichen, immerhin aus der engeren Umgebung Hitlers stammenden Versicherung zufolge, ein Grazer Jude namens Frankenberger, in dessen Haushalt Maria Anna Schicklgruber tätig gewesen sein soll, als sie schwanger wurde. Jedenfalls hat Hans Frank, Hitlers langjähriger Anwalt und späterer Generalgouverneur in Polen, im Rahmen seines Nürnberger Rechenschaftsberichts bezeugt, Hitler habe im Jahre 1930 von einem Sohn seines Halbbruders Alois in möglicherweise erpresserischer Absicht einen Brief erhalten, der sich in dunklen Andeutungen über "sehr gewisse Umstände" der hitlerschen Familiengeschichte erging. Frank erhielt den Auftrag, der Sache vertraulich nachzugehen, und fand einige Anhaltspunkte für die Vermutung, daß Frankenberger der Großvater Hitlers gewesen sei. Der Mangel an nachprüfbaren Belegen läßt diese These freilich überaus fragwürdig erscheinen, wie wenig Anlaß Frank auch gehabt haben mag, Hitler von Nürnberg aus einen jüdischen Vorfahren zuzuschreiben; jüngere Untersuchungen haben die Glaubwürdigkeit seiner Versicherung weiter erschüttert, so daß die These der ernsthaften Erörterung kaum noch standhält. Ihre eigentliche Bedeutung liegt denn auch weniger in ihrer objektiven Stichhaltigkeit; weit entscheidender und psychologisch von Bedeutung war, daß Hitler seine Herkunft durch die Ergebnisse Franks in Zweifel gezogen sehen mußte. Eine erneute Nachforschungsaktion, im August 1942 von der Gestapo im Auftrag Heinrich Himmlers unternommen, blieb ohne greifbaren Erfolg, und nicht viel gesicherter als alle übrigen Großvaterschaftstheorien, wenn auch von einigem kombinatorischen Ehrgeiz zeugend, ist die Version, die Johann Nepomuk Hüttler "mit an absolute Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" als Vater Alois Schicklgrubers bezeichnet. Zuletzt endet die eine wie die andere dieser Thesen im Dunkel verworrener, von Not, Dumpfheit und ländlicher Bigotterie geprägter Verhältnisse: Adolf Hitler wußte nicht, wer sein Großvater war. Neunundzwanzig Jahre, nachdem Maria Anna Schicklgruber an Auszehrung infolge Brustwassersucht in Klein-Motten bei Strones verstorben war, und neunzehn Jahre nach dem Tode ihres Mannes erschien dessen Bruder Johann Nepomuk zusammen mit drei Bekannten beim Pfarrer Zahnschirm in Döllersheim und beantragte die Legitimierung seines inzwischen nahezu vierzigjährigen "Ziehsohnes", des Zollbeamten Alois Schicklgruber; allerdings sei nicht er selber, sondern sein verstorbener Bruder Johann Georg der Vater, dieser habe das auch zugestanden, seine Begleiter könnten den Sachverhalt bezeugen. Tatsächlich ließ sich der Pfarrer täuschen oder überreden. In dem alten Standesbuch ersetzte er unter der Eintragung vom 7. Juni 1837 kurzerhand den Vermerk "unehelich" durch "ehelich", füllte die Rubrik zur Person des Vaters wie gewünscht aus und notierte am Rande fälschlich: "Daß der als Vater eingetragene Georg Hitler, welcher den gefertigten Zeugen wohl bekannt, sich als der von der Kindesmutter Anna Schicklgruber angegebene Vater des Kindes Alois bekannt und um die Eintragung seines Namens in das hiesige Taufbuch nachgesucht habe, wird durch die Gefertigten bestätigt + + + Josef Romeder, Zeuge; + + + Johann Breiteneder, Zeuge; + + + Engelbert Paukh." Da die drei Zeugen nicht schreiben konnten, unterzeichneten sie mit drei Kreuzen, und der Pfarrer setzte ihre Namen hinzu. Doch versäumte er es, das Datum einzutragen, auch fehlten die eigene Unterschrift sowie die der (lange verstorbenen) Eltern. Wenn auch gesetzwidrig, war die Legitimierung doch wirksam; vom Januar 1877 an nannte Alois Schicklgruber sich Alois Hitler.
Der Anstoß zu dieser dörflichen Intrige ist zweifellos von Johann Nepomuk Hüttler ausgegangen; denn er hatte Alois erzogen und war begreiflicherweise stolz auf ihn. Alois war gerade erneut befördert worden, er hatte geheiratet und es weiter gebracht als je ein Hüttler oder Hiedler zuvor: nichts war verständlicher, als daß Johann Nepomuk das Bedürfnis empfand, den eigenen Namen in dem seines Ziehsohnes zu erhalten. Doch auch Alois mochte ein Interesse an der Namensänderung reklamieren; denn immerhin hatte er, ein energischer und pflichtbedachter Mann, inzwischen eine bemerkenswerte Karriere gemacht, so daß sein Bedürfnis einleuchtete, ihr durch einen "ehrlichen" Namen Gewähr und festen Grund zu verschaffen. Erst dreizehn Jahre alt, war er nach Wien zu einem Schuhmacher in die Lehre gegangen, hatte dann jedoch entschlossen das Handwerk aufgegeben, um in den österreichischen Finanzdienst einzutreten. Er war rasch avanciert und am Ende als Zollamtsoberoffizial in die höchste Rangklasse befördert worden, die ihm aufgrund seiner Vorbildung überhaupt offenstand. Mit Vorliebe zeigte er sich als Repräsentant der Obrigkeit, bei öffentlichen Anlässen und legte Wert darauf, mit seinem korrekten Titel angesprochen zu werden. Einer seiner Zollamtskollegen hat ihn als "streng, genau, sogar pedantisch" bezeichnet, und er selber hat einem Verwandten, der ihn um Rat bei der Berufswahl seines Sohnes bat, erklärt, der Finanzdienst verlange absoluten Gehorsam, Pflichtbewußtsein und sei nichts für "Trinker, Schuldenmacher, Kartenspieler und andere Leute mit unmoralischer Lebensführung". Die photographischen Porträts, die er meist aus Anlaß seiner Beförderungen anfertigen ließ, zeigen unverändert einen stattlichen Mann, der unterm mißtrauischen Amtsgesicht rauhe, bürgerliche Lebenstüchtigkeit und bürgerliche Repräsentationslust erkennen läßt: nicht ohne Würde und Selbstgefallen stellt er sich, mit blitzenden Uniformknöpfen, dem Betrachter. (J. Fest, 1978, S. 31.)

Zu diesem Bericht ist noch hinzuzufügen, daß Maria Schicklgruber nach der Geburt ihres Sohnes von dem bei Fest genannten jüdischen Kaufmann 14 (vierzehn) Jahre lang Alimente erhalten hat. Den genauen Wortlaut von Franks Bericht zitiert Fest in seiner Hitler-Biographie von 1973 nicht mehr, wohl aber in seinem früheren, 1963 erstmals erschienenen, Buch. Dieser lautet:
Der Vater Hitlers war das uneheliche Kind einer in einem Grazer Haushalt angestellten Köchin namens Schickelgruber aus Leonding bei Linz . . . Diese Köchin Schickelgruber, Großmutter Adolf Hitlers, war in einem jüdischen Haushalt mit Namen Frankenberger bedienstet, als sie ihr Kind gebar (müßte richtig heißen: als sie in die Hoffnung kam; der Verf.). Und dieser Frankenberger hat für seinen damals - die Sache spielt in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts - etwa neunzehnjährigen Sohn (der die Köchin geschwängert hatte - AM), mit der Geburt beginnend, bis in das vierzehnte Lebensjahr dieses Kindes der Schickelgruber Alimente bezahlt. Es gab auch einen jahrelangen Briefwechsel zwischen diesen Frankenbergers und der Großmutter Hitlers, dessen Gesamttendenz die stillschweigende gemeinsame Kenntnis der Beteiligten war, daß das Kind der Schickelgruber unter den Frankenberger alimentenpflichtig machenden Umständen gezeugt worden war… (J. Fest, 1963, S. 18).

Wenn diese Tatsachen im Dorf so gut bekannt waren, daß sie nach 100 Jahren noch erzählt wurden, ist es undenkbar, daß Alois nichts davon gewußt hätte. Es ist auch nicht gut denkbar, daß Menschen in seiner Umgebung an eine derart unbegründete Großzügigkeit geglaubt hatten. Wie es auch tatsächlich gewesen sein mag, es lastete auf Alois eine mehrfache Schmach

  1. der Armut;
  2. der unehelichen Geburt;
  3. der Trennung von der leiblichen Mutter im Alter von 5 Jahren und
  4. des jüdischen Blutes.

Über die ersten drei Punkte bestand Gewißheit, der vierte mag bloß ein Gerücht gewesen sein, das machte die Lage nicht leichter. Wie will man sich gegen ein Gerücht wehren, mit dem niemand offen herausrückt, über das nur getuschelt wird? Mit Gewißheiten kann man besser leben, auch mit den schlimmsten. Man kann sich z. B. beruflich so hoch hinaufarbeiten, daß von Armut keine Spur mehr bleibt. Das ist auch Alois gelungen. Es ist ihm auch gelungen, seine zwei späteren Ehefrauen vorehelich zu schwängern, um das erlittene Schicksal seiner unehelichen Geburt an seinen Kindern aktiv zu wiederholen und es unbewußt zu rächen. Aber die Frage nach der eigenen Herkunft blieb sein ganzes Leben unbeantwortet.
Die Ungewißheit über die eigene Herkunft, wenn nicht bewußt erlebt und betrauert, kann einen Menschen in eine große Unruhe und Unrast bringen, besonders aber, wenn sie, wie im Fall von Alois, mit einem ominösen Gerücht, das weder nachweisbar noch je vollständig widerlegbar war, verbunden ist.

Ich hörte kürzlich von einem beinahe 80jährigen Mann, Einwanderer aus Osteuropa, der seit 35 Jahren mit Frau und erwachsenen Kindern in Westeuropa lebt. Zu seinem größten Erstaunen erhielt dieser Mann vor kurzem einen Brief von seinem jetzt 53 jährigen, unehelichen Sohn aus der Sowjetunion, von dem er seit 50 Jahren glaubte, er wäre tot. Das damals dreijährige Kind befand sich gerade bei seiner Mutter, als diese erschossen wurde. Der Vater des Kindes kam anschließend als politischer Häftling ins Gefängnis, und es ist ihm später nie eingefallen, diesen Sohn zu suchen, so sehr war er von dessen Tod überzeugt. Der Sohn aber, der den Namen der Mutter trug, schrieb in seinem Brief, daß er seit 50 Jahren keine Ruhe gehabt hätte und, von einer Information zur anderen geleitet, immer wieder neue Hoffnungen geschöpft habe, die sich immer wieder zerschlugen. Aber er hat es fertig gebracht, seinen Vater nach 50 Jahren zu finden, obwohl er zunächst nicht einmal seinen Namen kannte. Man kann sich vorstellen, wie stark dieser Mann seinen unbekannten Vater idealisiert hat, welche Hoffnungen er an das Wiedersehen geknüpft hat. Denn es mußten ungeheure Energiemengen dafür verwendet werden, um von einer kleinen Provinzstadt in der Sowjetunion aus einen Mann in Westeuropa ausfindig zu machen.

Diese Geschichte zeigt, wie lebensnotwendig es für einen Menschen sein kann, die ungelöste Frage seiner Herkunft zu klären und dem unbekannten Elternteil zu begegnen. Es ist unwahrscheinlich, daß Alois Hitler bewußt solche Bedürfnisse hätte erleben können, außerdem war es ihm nicht möglich, den unbekannten Vater zu idealisieren, wenn das Gerücht umging, daß dieser ein Jude gewesen war, was in seiner Umgebung Schmach und Isolierung bedeutete. Der von Joachim Fest beschriebene, an Fehlleistungen reiche Akt der Änderung des Namens im Alter von 40 Jahren zeigt, wie bedeutsam, aber auch wie konfliktreich die Frage der Herkunft für Alois war.
Doch emotionale Konflikte lassen sich nicht mit offiziellen Dokumenten aus der Welt schaffen. Das ganze Gewicht dieser mit Leistungen, Beamtenstelle, Uniform und protzigem Verhalten abgewehrten Unruhe bekamen seine Kinder zu spüren.
John Toland berichtet:

Er war streitsüchtig und reizbar geworden. Zum Hauptobjekt der väterlichen Mißstimmung wurde Alois jr. Zeitweise lag der Vater, der absoluten Gehorsam verlangte, mit diesem Sohn in dauerndem Streit, weil der Junge sich weigerte, diese Fügsamkeit zu zeigen. Später beklagte Alois jr. sich bitter darüber, daß sein Vater ihn häufig "unbarmherzig mit der Nilpferdpeitsche geschlagen" habe, aber im damaligen Österreich waren schlimme körperliche Züchtigungen von Kindern keinesfalls unüblich; man erachtete eine solche Behandlung als günstig für die seelische Entwicklung des Kindes. Als der Junge einmal an drei Tagen nicht zur Schule gegangen war, weil er ein Spielzeugboot fertigstellen wollte, wurde er wieder von seinem Vater, der ihn durchaus zu diesem Hobby ermutigt hatte, mit der Peitsche traktiert und dann so lange mißhandelt, bis er das Bewußtsein verlor. Einigen Erzählungen zufolge wurde auch Adolf - wenn auch nicht so häufig - mit der Peitsche gezüchtigt, und den Hund schlug der Herr des Hauses "so lange, bis er sich krümmte und den Fußboden näßte". Gewalttätigkeiten dieser Art mußte, Alois Hitler jr. zufolge, sogar die duldsame Ehefrau Klara Hitler ertragen; wenn diese Angaben stimmen, so müssen solche Auftritte bei Adolf Hitler einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen haben (J. Toland, 1977, S. 26).

Interessanterweise schreibt Toland: "wenn diese Angaben stimmen", obwohl er selber eine Information von Adolfs Schwester Paula besitzt, die er zwar in seinem Buch nicht veröffentlicht, die aber in der Monographie von Helm Stierlin mit dem Hinweis auf die Toland Collection zitiert wird. Sie lautet:

Es war vor allem Bruder Adolf, der meinen Vater zu extremer Härte provozierte und jeden Tag sein gehöriges Maß an Prügel bekam. Er war ein etwas unflätiger kleiner Lausbub, und alle Versuche seines Vaters, ihm die Frechheit auszuprügeln und ihn dazu zu bringen, den Beruf eines Staatsbeamten zu wählen, waren vergeblich. (H. Stierlin 1975, S. 23).

Wenn die Schwester Paula John Toland persönlich erzählte, daß ihr Bruder Adolf jeden Tag "sein gehöriges Maß an Prügel" vom Vater bekam, besteht kein Grund, daran zu zweifeln. Es ist aber bezeichnend für alle Biographen, daß sie Mühe haben, sich mit dem Kind zu identifizieren und ganz unbewußt die Mißhandlungen der Eltern bagatellisieren. Sehr aufschlußreich ist die folgende Stelle von Franz Jetzinger:

Man schrieb auch, daß der Bub vom Vater arg geschlagen worden sei. Man beruft sich dabei auf einen angeblichen Ausspruch der Angela, die gesagt haben soll: "Adolf, denk daran, wie ich und die Mutter den Vater am Uniformrock zurückhielten, wenn er dich schlagen wollte!" Dieser angebliche Ausspruch ist sehr verdächtig. Der Vater trug seit der Hafelder Zeit keine Uniform mehr; das letzte Jahr, da er noch die Uniform trug, lebte er nicht bei der Familie; diese Szenen hätten sich also abspielen müssen zwischen 1892 und 1894; da war Adolf erst vier Jahre, und die Angela erst zwölf Jahre, da hätte sie es nie gewagt, den so strengen Vater am Uniformrock zurückzuhalten. Das hat einer erfunden, der in der Zeitrechnung schlecht beschlagen war!
Der "Führer" selber erzählte seinen Sekretärinnen, denen er überhaupt gern Mätzchen vormachte, der Vater habe ihm einmal dreißig Schläge auf das verlängerte Rückgrat appliziert, aber der Führer erzählte in diesem Kreis manches, was nachweisbar unrichtig ist, und gerade diese Erzählung verdient um so weniger Glauben, weil er sie im Zusammenhang mit Indianergeschichten erzählte und sich brüstete, er habe bei dieser Prozedur nach Indianerart nicht einen einzigen Laut von sich gegeben. Es mag schon sein, daß der recht unfolgsame und widerborstige Bub ab und zu eine appliziert bekam, verdient hätte er es redlich, aber zu den "verprügelten Kindern" gehörte er auf keinen Fall; sein Vater war ein durch und durch fortschrittlich gesinnter Mann. Mit solch erkünstelten Theorien löst man das Rätsel Hitler nicht, kompliziert es nur!
Es hat im Gegenteil weit mehr den Anschein, daß der Vater Hitler, der doch zur Leondinger Zeit schon mehr als 61 Jahre alt war, beim Buben alle fünf grad sein ließ und sich um seine Erziehung überhaupt nicht viel kümmerte. (Jetzinger, 1957, S.94.)

Wenn Jetzingers historische Belege stimmen, und es besteht kein Grund, daran zu zweifeln, so bestätigt er mit seiner "Beweisführung" meine feste Überzeugung, daß Adolf nicht erst als großer Junge, sondern bereits als sehr kleines Kind, nämlich unter vier Jahren, geschlagen wurde. Eigentlich bedarf es dieser Beweise nicht, denn das ganze Leben Adolfs ist ein Beweis dafür. Er selber schreibt in Mein Kampf nicht zufällig vom "sagen wir" dreijährigen Kind. Jetzinger nimmt offenbar an, daß dies nicht möglich gewesen wäre. Warum eigentlich nicht? Wie oft ist doch das kleine Kind der Träger des im Erwachsenen abgewehrten Bösen.¹ In den Erziehungsschriften, die ich oben zitierte, und in den Büchern des Dr. Schreber, die seinerzeit ungemein populär waren, wird ja die Züchtigung des Säuglings eindringlich empfohlen. Immer wieder wird darauf hingewiesen, daß man das Böse nie früh genug austreiben könne, damit das "Gute ungestört wachse". Außerdem wissen wir aus Zeitungsberichten, daß Mütter ihre Säuglinge schlagen, und wir wüßten vielleicht noch viel mehr darüber, wenn Kinderärzte frei erzählen würden, was sie täglich erleben, aber bis vor kurzem hat es ihnen die ärztliche Schweigepflicht (zumindest in der Schweiz) sogar ausdrücklich verboten, und jetzt schweigen sie vielleicht immer noch aus Gewohnheit oder "aus Anstand". Sollte also jemand an den frühen Züchtigungen Adolf Hitlers zweifeln, so wäre für ihn die oben zitierte Stelle aus Jetzingers Biographie eine objektive Information, obwohl Jetzinger eigentlich das Gegenteil beweisen möchte - jedenfalls bewußt. Unbewußt hat er einiges mehr wahrgenommen, was sich in dem offenen Widerspruch zeigt. Denn entweder mußte Angela Angst haben vor dem "strengen Vater", dann war Alois nicht so gutmütig wie Jetzinger ihn darstellt, oder er war so, dann hätte sie keine Angst zu haben brauchen.

Ich habe mich so lange bei dieser Stelle aufgehalten, weil sie mir als Beleg dafür dient, wie Biographien durch die Schonung der Eltern entstellt werden. Bezeichnenderweise spricht Jetzinger von "Mätzchen" da, wo Hitler seine bittere Wahrheit erzählt, behauptet, daß er "auf keinen Fall" zu den "verprügelten Kindern" gehörte und daß "der unfolgsame und widerborstige Bub" seine Schläge "redlich verdiente". Denn "sein Vater war ein durch und durch (!) fortschrittlich gesinnter Mann". Über Jetzingers Begriff der fortschrittlichen Gesinnung ließe sich sicher streiten, aber abgesehen davon gibt es Väter, die nach außen tatsächlich fortschrittlich denken und nur bei ihren Kindern oder sogar nur bei einem, dem dazu auserwählten, die Geschichte ihrer Kindheit wiederholen.

Aus der pädagogischen Haltung, die ihre Hauptaufgabe im Schutz der Eltern vor den Vorwürfen des Kindes sieht, ergeben sich die seltsamsten psychologischen Interpretationen. So meint z. B. Fest, daß erst Franks Bericht von 1938 über die jüdische Herkunft seines Vaters bei Adolf Hitler Aggressionen gegen den Vater ausgelöst hätte. Im Gegensatz zu meiner These, daß Adolf Hitlers begründeter Kindheitshaß auf seinen Vater im Judenhaß ein Ventil gefunden hatte, meinte Fest, daß Adolf Hitler als erwachsener Mann, im Jahre 1938, anfing, seinen Vater zu hassen, nachdem er durch Frank von dessen jüdischer Abstammung erfahren hatte. Er schreibt:

Niemand vermag zu sagen, welche Reaktionen die Aufdeckung dieser Zusammenhänge in seinem Sohn auslöste, der sich soeben zur Eroberung der Macht in Deutschland anschickte; doch spricht einiges dafür, daß die dumpfen Aggressionen, die er dem Vater gegenüber stets empfunden hatte, nun in offenen Haß umschlugen. Schon im Mai 1938, wenige Wochen nach dem Anschluß Österreichs, ließ er die Ortschaft Döllersheim und deren weitere Umgebung in einen Truppenübungsplatz umwandeln. Die Geburtsstätte des Vaters und die Grabstelle der Großmutter wurden von den Panzern der Wehrmacht dem Erdboden gleichgemacht (J. Fest, 1963, S. 18).

Ein solcher Haß auf den Vater kann nicht dem bloßen Gehirn eines erwachsenen Menschen entstammen, einer "intellektuell" antisemitischen Haltung gewissermaßen; ein solcher Haß hat erfahrungsgemäß tiefe Wurzeln im Dunkel der eigenen Kindheitserlebnisse. Bezeichnenderweise meint auch Jetzinger, daß sich der "politische Haß" gegen die Juden nach Franks Nachricht in einen "persönlichen Haß" gegen den Vater und die Familienangehörigen "gewandelt" hätte (vgl. Jetzinger, S. 54).

Nach dem Tod von Alois brachte die Linzer "Tagespost" vom 8.1.1903 einen Nachruf, in dem es hieß:

"Fiel auch ab und zu ein schroffes Wort aus seinem Munde, unter einer rauhen Hülle barg sich ein gutes Herz. Für Recht und Rechtlichkeit trat er jeder Zeit mit aller Energie ein. In allen Dingen unterrichtet, konnte er überall ein entscheidendes Wort mitsprechen." Der Grabstein Alois Hitlers trägt ein Bild des einstigen Zollamts-Oberoffizials, auf dem er den Blick entschlossen nach oben richtet (zitiert nach J. Toland, S. 34).

Smith berichtet sogar, daß Alois einen "echten Respekt vor den Rechten der Menschen und eine tiefe Sorge um ihr Wohlergehen zeigte" (Stierlin, S. 20).
Was bei "Respektpersonen" als "rauhe Hülle" ankommt, kann beim eigenen Kind die reinste Hölle sein. Dafür gibt auch J. Toland ein Beispiel:

In einer besonders rebellischen Phase beschloß Adolf eines Tages, davonzulaufen. Sein Vater erfuhr jedoch davon und schloß ihn in einem der oberen Räume ein. In der Nacht versuchte der Junge durch eine Fensteröffnung zu entkommen; und nachdem sie sich als zu eng erwiesen hatte, entledigte er sich seiner Kleider. In diesem Augenblick hörte er seinen Vater die Treppe heraufkommen; er gab seinen Versuch auf und bedeckte seine Blößen hastig mit einem Tischtuch. Der alte Herr griff diesmal nicht zur Peitsche; stattdessen brach er in Gelächter aus und rief seine Frau; sie möge doch heraufkommen und sich den "Togajüngling" ansehen. Dieser Spott traf den Sohn härter als jede körperliche Züchtigung. Helene Hanfstaengl bekannte er später, er habe "lange gebraucht, um über diese Episode hinwegzukommen".
Viele Jahre später erzählte Hitler einer seiner Sekretärinnen, er habe einmal in einem Abenteuerroman gelesen, es sei ein Zeichen von Mut, seinen Schmerz nicht zu zeigen. Und so "nahm ich mir vor, bei der nächsten Tracht Prügel keinen Laut von mir zu geben. Und als dies soweit war - ich weiß noch, meine Mutter stand draußen ängstlich an der Tür -, habe ich jeden Schlag mitgezählt. Die Mutter dachte, ich sei verrückt geworden, als ich ihr stolz strahlend berichtete: " Zweiunddreißig Schläge hat mir der Vater gegeben! " (Toland, S. 30).

Aus diesen und ähnlichen Stellen bekommt man den Eindruck, daß Alois die blinde Wut über die Erniedrigungen seiner Kindheit immer wieder in seinen Sohn hineingeschlagen hat. Offenbar stand er unter dem Zwang, gerade diesem Kind die Erniedrigungen und die Schmerzen seiner Kindheit zukommen zu lassen.

Eine Geschichte könnte hier helfen, die Hintergründe eines solchen Zwanges zu verstehen. In einer amerikanischen Fernsehsendung wird eine therapeutische Gruppe junger Mütter gezeigt, die berichten, wie sie ihre Säuglinge mißhandelt haben. Eine der Mütter erzählt, daß sie es einmal nicht mehr aushalten konnte, das Schreien des Kindes zu hören, es plötzlich aus seinem Bettchen gerissen und an die Wand geschlagen hätte. Sie vermittelte dem Zuschauer sehr deutlich ihre damalige Verzweiflung und erzählte weiter, daß sie, als sie sich nicht mehr zu helfen wußte, den Telefondienst benutzte, den es in Amerika für diese Zwecke zu geben scheint. Die Stimme am Telefon fragte, wen sie eigentlich hätte schlagen wollen. Zu ihrer eigenen Überraschung hörte sie sich sagen: "mich selbst" und brach schluchzend zusammen.
Mit dieser Geschichte möchte ich erklären, wie ich das Schlagen von Alois verstehe. Das ändert aber nichts daran, daß Adolf, der ja das alles als Kind nicht wissen konnte, in einer täglichen Bedrohung, ja in einer Hölle lebte, in einer ständigen Angst und im realen Trauma; daß er zugleich gezwungen war, alle diese Gefühle zu unterdrücken und sogar nur so seinen Stolz retten konnte; daß er den Schmerz nicht zeigte und ihn auch abspalten mußte.
Welch unbändigen, unbewußten Neid mußte der kleine Junge schon mit seinem bloßen Dasein in Alois provoziert haben! Geboren als "legales" eheliches Kind, dazu als Sohn eines Zollamtsoffizials, bei einer Mutter, die ihn nicht wegen Armut anderen Leuten abgeben mußte, und mit einem Vater, den er kannte (den er sogar täglich körperlich zu spüren bekam, so deutlich und nachhaltig, daß er ihn das ganze Leben nicht vergessen sollte). War es nicht genau das, was Alois so schmerzlich entbehren mußte und was er trotz größter Anstrengung seines ganzen Lebens nicht erreichen konnte, weil man das Schicksal der Kindheit niemals ändern kann? Man kann es nur hinnehmen und mit der Wahrheit der Vergangenheit leben oder aber es vollständig verleugnen und dafür andere leiden lassen.

Es fällt vielen Menschen sehr schwer, die traurige Wahrheit hinzunehmen, daß Grausamkeit meistens unschuldige Menschen trifft. Man lernt ja schon als kleines Kind, alle Grausamkeiten der Erziehung als Strafen für eigenes Verschulden anzusehen. Eine Lehrerin erzählte mir, daß mehrere Kinder ihrer Klasse meinten, nachdem sie den Holocaust-Film gesehen hatten: "Die Juden mußten doch schuld sein, sonst hätte man sie nicht so bestraft".
Von dort her sind auch die Bemühungen aller Biographen zu verstehen, die dem kleinen Adolf alle möglichen Sünden zuschreiben, vor allem Faulheit, Widerborstigkeit und Lügenhaftigkeit. Kommt denn ein Kind als Lügner auf die Welt? Und ist die Lüge nicht manchmal die einzige Chance, bei einem solchen Vater zu überleben und einen Rest seiner Würde zu retten? In einer so totalen Auslieferung an die Launen einer anderen Person, wie Adolf Hitler (und nicht nur er!) sie erlebte, sind Verstellung und schlechte Schulzeugnisse manchmal die einzige Möglichkeit, ein Stück Autonomie im Geheimen zu entwickeln. Es ist daher eher anzunehmen, daß Hitlers spätere Schilderungen eines offenen Kampfes mit dem Vater um die Berufswahl nachträgliche Retouchen waren, aber nicht weil der Sohn "von Natur aus" feige war, sondern weil dieser Vater keine Diskussionen zulassen konnte. Eher wird die folgende Stelle aus Mein Kampf dem wahren Sachverhalt entsprechen:
Ich konnte mit meinen inneren Anschauungen etwas zurückhalten, brauchte ja nicht immer gleich zu widersprechen. Es genügte mein eigener fester Entschluß, später einmal nicht Beamter zu werden, um mich innerlich vollständig zu beruhigen (zit. n. K. Heiden, 1936, S. 16).

Es ist bezeichnend, daß der Biograph, Konrad Heiden, der diese Stelle zitiert, am Schluß bemerkt: "also ein kleiner Duckmäuser". Wir verlangen eben von einem Kind, daß es sich in einem totalitären Regime offen und ehrlich verhält, zugleich aber aufs Wort gehorcht, gute Noten heimbringt, dem Vater nicht widerspricht, immer seine Pflicht erfüllt.
Auch der Biograph Rudolf Olden schreibt in seiner Biographie (1935) folgendes über Hitlers Schulschwierigkeiten:

Unlust und Unfähigkeit steigern sich schnell. Mit der harten Hand des Vaters, der plötzlich stirbt, fällt ein wichtiger Antrieb (!) weg (R. Olden, 1935, S. 18).

Die Schläge des Vaters sollten also der Antrieb zum Lernen sein. Das schreibt ausgerechnet der gleiche Biograph, der kurz zuvor über Alois folgendes berichtet:

Er hatte auch als Verabschiedeter den typischen Beamtenstolz und verlangte, daß man ihn Herr und mit seinem Titel anredete. Die Bauern und Häusler sagen Du zueinander. Zum Spott gaben sie dem Ortsfremden die Ehren, die er verlangte. In ein gutes Verhältnis kam er nicht zu seiner Umgebung. Dafür hatte er im eigenen Haus eine familiäre Diktatur errichtet. Die Frau sah zu ihm auf, für die Kinder hatte er eine harte Hand. Besonders Adolf verstand er nicht. Er tyrannisierte ihn. Sollte der Junge kommen, so pfiff der alte Unteroffizier auf zwei Fingern (Olden, S. 12).
Diese Szene, 1935 beschrieben, als noch viele Bekannte der Familie Hitler in Braunau lebten und als es noch nicht so schwer war, Informationen zu bekommen, findet sich meines Wissens nicht mehr in den Nachkriegsbiographien. Das Bild des Mannes, der sein Kind mit einem Pfiff wie einen Hund hereinruft, erinnert so stark an die Beschreibungen aus den KZ- Lagern, daß man sich nicht wundern kann, wenn die heutigen Biographen das - aus einer verständlichen Scheu - übersehen haben. Dazu kommt die in allen Biographien zu findende Tendenz, die Brutalität des Vaters zu verharmlosen, mit dem Hinweis, daß Schläge damals ganz normal waren, oder sogar mit komplizierten Beweisen gegen solche " Verleumdungen" des Vaters, wie das z. B. Jetzinger tut. Traurigerweise sind gerade Jetzingers sorgfaltige Nachforschungen eine wichtige Quelle der späteren Arbeiten. Seine psychologischen Einsichten entfernen sich aber nicht weit von denen eines Alois.

Wie Hitler als Kind seinen Vater wirklich erfahren haben muß, zeigte er, indem er unbewußt dessen Verhalten übernahm und in der Weltgeschichte aktiv spielte. Der zackige, uniformierte, etwas lächerliche Diktator, wie Chaplin ihn in seinem Film dargestellt hat und wie ihn auch die Feinde gesehen haben, das war Alois in den Augen seines kritischen Sohnes. Der große, geliebte und bewunderte Führer des deutschen Volkes, das war der andere Alois, der bewunderte und geliebte Mann der unterwürfigen Mutter Klara, deren Ehrfurcht und Bewunderung der ganz kleine Adolf zweifellos noch teilte. Diese beiden verinnerlichten Aspekte seines Vaters lassen sich in Adolfs späteren Inszenierungen an vielen Stellen so deutlich finden (denken wir doch nur an den Gruß "Heil Hitler", an die Huldigungen der Massen usw.), daß man den Eindruck bekommt, seine künstlerische Begabung hätte ihn mit ungeheurer Wucht dazu gedrängt, im ganzen späteren Leben die ersten, unbewußt gebliebenen, aber tief eingeprägten Eindrücke vom tyrannischen Vater in Szene zu setzen und darzustellen. Sie sind jedem Zeitgenossen unvergeßlich geblieben, wobei ein Teil der Zeitgenossen den Diktator im Entsetzen des mißhandelten und ein anderer ihn in der vollen Hingebung und Bejahung des ahnungslosen Kindes erleben konnte. Jeder große Künstler schöpft aus dem Unbewußten seiner Kindheit, und Hitlers Werk hätte auch ein Kunstwerk werden können, wenn es nicht Millionen das Leben gekostet hätte, wenn nicht so viele Menschen seine ungelebten, in der Grandiosität abgewehrten Schmerzen hätten ertragen müssen. Aber trotz der Identifikation mit dem Aggressor gibt es Stellen in Mein Kampf, die auch direkt zeigen, wie Adolf Hitler seine Kindheit erlebte.

"In einer Kellerwohnung, aus zwei dumpfen Zimmern bestehend, haust eine sechsköpfige Arbeiterfamilie. Unter den Kindern auch ein Junge von, nehmen wir an, drei Jahren [. . .] Schon die Enge und Überfüllung des Raumes führt nicht zu günstigen Verhältnissen. Streit und Hader werden sehr häufig schon auf diese Weise entstehen [ . . . ] Wenn [ . . . ] dieser Kampf unter den Eltern selber ausgefochten wird, und zwar fast jeden Tag, in Formen, die an innerer Rohheit oft wirklich nichts zu wünschen übriglassen, dann müssen sich, wenn auch noch so langsam, endlich die Resultate eines solchen Anschauungsunterrichtes bei den Kleinen zeigen. Welcher Art sie sein müssen, wenn dieser gegenseitige Zwist die Formen roher Ausschreitungen des Vaters gegen die Mutter annimmt, zu Mißhandlungen im betrunkenen Zustand führt, kann sich der ein solches Milieu eben nicht Kennende nur schwer vorstellen. Mit 6 Jahren ahnt der kleine, zu bedauernde Junge Dinge, vor denen ein Erwachsener nur Grauen empfinden kann. . . Was der kleine Kerl sonst zu Hause hört, führt auch nicht zu einer Stärkung oder Achtung vor der lieben Mitwelt [. . .]" "Übel aber endet es, wenn der Mann von Anfang an seine eigenen Wege geht und das Weib, gerade den Kindern zuliebe, dagegen auftritt. Dann gibt es Streit und Hader, und in dem Maße, in dem der Mann der Frau nun fremder wird, kommt er dem Alkohol näher. Kommt er endlich Sonntag oder Montag nachts selber nach Hause, betrunken und brutal, immer aber befreit vom letzten Heller und Pfennig, dann spielen sich oft Szenen ab, daß Gott erbarm.
In Hunderten von Beispielen habe ich dies alles erlebt [. . .]" (Stierlin, 1975, S. 24).
Obwohl die tiefe und nachhaltige Verletzung seiner Würde Adolf Hitler nicht erlaubt hätte, die Situation dieses "nehmen wir an" dreijährigen Jungen als die seine in der Ichform zu schildern, kann am Erlebnisgehalt dieser Darstellung kein Zweifel bestehen.
Ein Kind, das von seinem Vater nicht mit seinem Namen gerufen, sondern wie ein Hund herbeigepfiffen wird, hat in der Familie den gleichen rechtslosen und namenlosen Status wie "der Jude" im Dritten Reich.

Es ist Hitler tatsächlich gelungen, aus dem unbewußten Wiederholungszwang sein Familientrauma auf das ganze deutsche Volk zu übertragen. Durch die Einführung der Rassengesetze wurde es für jeden Bürger notwendig, seine Herkunft bis in die dritte Generation zurück legitimieren zu müssen und die daraus resultierenden Konsequenzen zu tragen. Die falsche oder unklare Herkunft konnte einem Menschen zuerst Schmach, Erniedrigung und schließlich den Tod bedeuten - und das mitten im Frieden, mitten im Staat, der sich ein Rechtsstaat nannte. Das ist ein Phänomen, das nirgends sonst in der Geschichte anzutreffen ist, nirgends auch Vorbilder hat. Denn die Inquisition z. B. verfolgte die Juden ihres Glaubens wegen, sie ließ ihnen jedoch die Möglichkeit einer Taufe zum Überleben. Im Dritten Reich haben aber kein Verhalten, keine Verdienste und Leistungen geholfen - als Jude war man von der Herkunft her zur Erniedrigung und später zum Tode verurteilt. Spiegelt sich hier nicht das Schicksal Hitlers in zweifacher Weise?

  1. Es war ja auch für Hitlers Vater unmöglich, trotz aller Anstrengungen, Erfolge, beruflicher Aufstiege vom Schuster zum Zollamtsoberoffizial den "Schmutzfleck" in seiner Vergangenheit auszutilgen, wie es später den Juden verboten war, den Davidstern zu entfernen. Der "Schmutzfleck" blieb bestehen und bedrückte ihn sein ganzes Leben. Es mag sein, daß die vielen Umzüge (nach Fest elfmal) neben dem beruflichen auch diesen Grund gehabt haben - Spuren zu verwischen. Diese Tendenz ist ja auch in Adolfs Leben sehr deutlich: "Als ihm 1942 berichtet wurde, daß sich in dem Dorf Spital [der Herkunftsgegend seines Vaters - AM] eine Gedenktafel befände, bekam er einen seiner hemmungslosen Wutanfälle", berichtet Fest.
  2. Zugleich bedeutete das Rassengesetz die Wiederholung des eigenen Kindheitsdramas. So wie der Jude jetzt keine Chance hatte, konnte einst das Kind Adolf den Schlägen seines Vaters nicht entgehen, denn die Ursache der Schläge waren ja die ungelösten Probleme des Vaters, die Abwehr seiner Trauer um die eigene Kindheit, nicht aber das Verhalten des Kindes. Solche Väter pflegen auch ihre schlafenden Kinder aus den Betten zu zerren, wenn sie mit einer Stimmung nicht fertig werden (sich vielleicht gerade irgendwo in der Gesellschaft klein und unsicher gefühlt haben), und ihr Kind zu verprügeln, um sich ihr narzißtisches Gleichgewicht wieder zu verschaffen (vgl. Christiane F., S. 19 f.).
    Diese Funktion hatte der Jude im Dritten Reich, das sich auf seine Kosten von der Schmach der Weimarer Republik erholen mußte, und diese Funktion hatte Adolf in seiner ganzen Kindheit. Er mußte es wehrlos hinnehmen, daß jeden Moment ein Gewitter über ihn losbrechen konnte, ohne daß er es mit irgendeinem Einfall, irgendeiner Leistung hätte von sich abwenden oder vermeiden können.

Weil Adolf mit seinem Vater keine Zärtlichkeiten verband (er nennt ihn in Mein Kampf bezeichnenderweise "Herr Vater"), war der aufsteigende Haß in ihm kontinuierlich und eindeutig. Anders ist es bei Kindern, deren Väter Wutausbrüche haben und zwischendurch wieder reizend mit den Kindern spielen können. Da kann der Haß in dieser reinen Form gar nicht so kultiviert werden. Diese Menschen haben es in einer anderen Art sehr schwer, suchen sich Partner mit einer ähnlich zu Extremen neigenden Struktur, sind mit tausend Ketten an diese gebunden, können die Partner nicht verlassen, leben immer in der Erwartung, daß die gute Seite endlich von Dauer sein wird, verzweifeln bei jedem neuen Ausbruch immer aufs Neue. Solche sado-masochistischen Bindungen, die auf das doppelte Gesicht eines Elternteils zurückgehen, sind stärker als eine Liebesbeziehung, sie sind nicht zu trennen und bedeuten permanente Selbstzerstörung.
Dem Kind Adolf war die Kontinuität der Schläge gesichert. Was er auch getan haben mochte, es konnte auf die täglichen Prügel keinen Einfluß haben. Es blieb ihm nur die Verleugnung der Schmerzen, also die Selbstverleugnung und die Identifikation mit dem Aggressor. Niemand konnte ihm helfen, nicht einmal seine Mutter, die sonst in Gefahr geriet. Denn auch sie wurde geschlagen (vgl. J. Toland, S. 26).
Diese ständige Bedrohung spiegelt sich im Schicksal der Juden im Dritten Reich sehr genau wider. Versuchen wir uns eine Szene vorzustellen: Ein Jude geht auf die Straße, vielleicht um Milch zu holen, da stürzt sich ein Mensch mit der SA-Binde um den Arm auf ihn, ein Mensch, der das Recht hat, alles mit ihm zu machen, was er will, was ihm seine Phantasie gerade eingibt und was für sein Unbewußtes im Moment notwendig ist. Auf all das kann der Jude jetzt keinen Einfluß nehmen- so wenig wie einst das Kind Adolf. Wehrt sich der Jude, kann und darf er zu Tode getrampelt werden, wie seinerzeit der 11jährige Adolf, als er mit drei Kameraden verzweifelt von zu Hause weggelaufen war, um sich auf einem selbstgebauten Floß den Fluß heruntertreiben zu lassen und sich vor der Gewalt des Vaters zu retten. Für den bloßen Gedanken an eine Flucht wurde er beinahe zu Tode geprügelt (vgl. H. Stierlin, S. 23). Auch dem Juden steht jetzt keine Fluchtmöglichkeit zur Verfügung, alle Wege sind abgeschnitten und führen in den Tod, wie das Bahngeleise, das vor Treblinka und vor Auschwitz einfach endete, da hörte das Leben auf. So fühlt sich doch jedes Kind, das täglich geschlagen wird und wegen des Gedankens an Flucht fast umgebracht worden wäre.
In der von mir geschilderten Szene, die sich in vielen Varianten zwischen 1933 und 1945 unzählige Male abgespielt hat, muß der Jude alles wie ein hilfloses Kind ertragen. Er muß es über sich ergehen lassen, daß dieses schreiende, außer sich geratene, in ein Monstrum verwandelte Geschöpf mit der SA-Binde ihm die Milch über den Kopf gießt, andere herbeiruft, um sich zu amüsieren (wie Alois über Adolfs Toga lachte), sich jetzt groß und stark fühlt neben einem Menschen, der ganz ihm, ganz seiner Macht ausgeliefert ist. Wenn dieser Jude das Leben liebt, wird er es jetzt nicht aufs Spiel setzen, nur um sich Mut und Härte zu beweisen. Er verhält sich also ruhig und ist innerlich voller Widerwillen und Verachtung für diesen Menschen, genauso wie damals Adolf, der die Schwäche seines Vaters mit der Zeit durchschaute und anfing, ihm mit seinem Schulversagen, das den Vater kränkte, wenigstens ein bißchen zurückzuzahlen.

Joachim Fest meint, der Grund von Adolfs Schulversagen könne nicht in seiner Beziehung zum Vater liegen, sondern in der Erschwerung der gestellten Forderungen - in Linz, wo Adolf der Konkurrenz mit den aus bürgerlichen Häusern stammenden Kameraden nicht mehr gewachsen war. Andererseits schreibt Fest, Adolf sei "ein aufgeweckter, lebhafter und offenbar begabter Schüler gewesen" (S. 37). Warum sollte ein solcher Junge in der Schule versagen, wenn nicht aus dem Grund, den er selber angibt, dem Fest aber mißtraut, weil er Adolf "einen Hang zur Bequemlichkeit" und "ein schon frühzeitig hervortretendes Unvermögen zu geregelter Arbeit" vorwirft (S. 37). So hätte Alois reden können, aber daß der gründlichste Biograph, der auf Tausenden von Seiten Hitlers spätere Leistungsfähigkeit selber unter Beweis stellt, sich mit dem Vater gegen das Kind identifiziert, wäre erstaunlich, wenn es nicht die Regel wäre. Fast alle Biographen übernehmen fraglos die Wertmaßstäbe der Erziehungsideologie, nach der die Eltern immer recht haben und die Kinder faul, verwöhnt, "störrisch" und "launisch" (S. 37) sind, wenn sie nicht unter allen Umständen wie gewünscht funktionieren. Falls die Kinder etwas gegen die Eltern sagen, kommen sie oft in den Verdacht der Lüge. Fest schreibt:

Ihn (den Vater) hat der Sohn später sogar, um einige effektvolle Schwärze ins Bild zu bringen (als ob das noch nötig gewesen wäre! AM) zum Trunksüchtigen gemacht, den er bettelnd und schimpfend, in Szenen "gräßlicher Scham" aus "stinkenden, rauchigen Kneipen" nach Hause zerren mußte (Fest 1978, S. 37).

Warum ist das effektvolle Schwärze? Weil sich die Biographen einig darüber sind, daß der Vater zwar gern im Wirtshaus trank und anschließend zu Hause Szenen machte, aber "kein Alkoholiker war". Mit der Diagnose "kein Alkoholiker" kann alles, was der Vater tat, weggewischt werden und dem Kind die Bedeutung seines Erlebnisses, nämlich der Schmach und Scham im Anblick der furchtbaren Szenen, vollständig ausgeredet werden.

Ähnliches geschieht, wenn Menschen während ihrer Analyse bei entfernten Familienangehörigen über ihre verstorbenen Eltern nachfragen. Die zu Lebzeiten fehlerlosen Eltern avancieren mit ihrem Tode mühelos zu Engeln und hinterlassen ihre Kinder in einer Hölle von Selbstvorwürfen. Da kaum ein Mensch in der Umgebung die einstigen Wahrnehmungen dieser Kinder bestätigen wird, bleiben sie mit ihnen isoliert und halten sich deswegen für sehr böse. Adolf Hitler wird es nicht anders ergangen sein, als er mit 13 Jahren seinen Vater verlor und von da an in seiner ganzen Umgebung nur dem idealisierten Vaterbild begegnete. Wer hätte ihm damals die Grausamkeit und Brutalität seines Vaters bestätigt, wenn die Biographen noch heute bemüht sind, dessen regelmäßige Schläge als harmlos zu schildern? Sobald es aber Adolf Hitler gelang, seine Erfahrung des Bösen auf den " Juden an sich" zu transponieren, gelang es ihm, die Isolierung zu durchbrechen.
Es gibt wohl kaum ein zuverlässigeres Bindeglied unter den Völkern Europas als den Judenhaß. Er ist seit jeher ein geschätztes Manipulationsmittel der Regierenden und eignet sich offenbar vorzüglich zur Verschleierung von sehr verschiedenen Interessen, so daß auch extrem miteinander verfeindete Gruppierungen sich über die Gefährlichkeit oder Gemeinheit der Juden völlig einig sein können. Der erwachsene Hitler wußte das und sagte einmal zu Rauschning, daß, "wenn es den Juden nicht gäbe, man ihn erfinden müßte".
Woher bezieht der Antisemitismus seine ewige Erneuerungsfähigkeit? Das ist nicht schwer zu verstehen. Man haßt den Juden nicht deshalb, weil er das oder jenes tut oder ist. Alles, was die Juden tun oder sind, läßt sich auch bei anderen Völkern finden. Man haßt den Juden, weil man einen unerlaubten Haß in sich trägt und begierig ist, ihn zu legitimieren. Das jüdische Volk eignet sich für diese Legitimierung in ganz besonderem Maße. Weil seine Verfolgung seit zwei Jahrtausenden von höchsten kirchlichen und staatlichen Autoritäten ausgeübt wurde, brauchte man sich des Judenhasses nie zu schämen, nicht einmal dann, wenn man mit strengsten moralischen Prinzipien aufgewachsen war und sich für die natürlichsten Regungen der Seele sonst zu schämen hatte (vgl. S. I 13f.). Ein im Panzer der zu früh geforderten Tugenden aufwachsendes Kind wird gerne nach der einzig erlaubten Abfuhr greifen, sich seinen Antisemitismus ( d. h. sein Recht auf den Haß) "holen" und ihn sein Leben lang behalten. Möglicherweise war aber diese Abfuhr Adolf nicht ohne weiteres zugänglich, weil sie ein Tabu der Familie berührt hätte. Später, in Wien, genoß er es, dieses stillschweigende Verbot aufzuheben, und als er zur Macht kam, brauchte er nur den einzigen in der abendländischen Tradition legitimen Haß zur höchsten Tugend des arischen Menschen zu proklamieren.
Meine Vermutung, daß die Abstammungsfrage in Adolfs Elternhaus tabuisiert gewesen war, leite ich von der großen Bedeutung ab, die er später diesem Thema beimaß. Seine Reaktion auf Franks Bericht im Jahre 1930 bestätigt nur diese Vermutung. Sie zeigt die für ein Kind so bezeichnende Mischung von Wissen und Nichtwissen und spiegelt die in der Familie herrschende Verwirrung im Zusammenhang mit diesem Thema. In Franks Bericht heißt es u.a. Adolf Hitler selbst wußte, daß sein Vater nicht von dem geschlechtlichen Verkehr der Schicklgruber mit dem Grazer Juden herstammte, er wußte es von seines Vaters und der Großmutter Erzählungen. Er wußte, daß sein Vater herstammte aus den vorehelichen Beziehungen seiner Großmutter mit ihrem späteren Mann. Aber diese beiden waren arm, und der Jude zahlte die Alimente als höchst erwünschte jahrelange Zulage zum armseligen Haushalt. Man hatte ihn, den Zahlungsfähigen, als Vater angegeben, und ohne Prozeß zahlte der Jude, weil er wohl einen prozessualen Austrag und die damit zusammenhängende Öffentlichkeit scheute (zitiert nach Jetzinger, S. 30).

Jetzinger kommentiert Hitlers Reaktion mit folgenden Worten:

In diesem Absatz wird offensichtlich wiedergegeben, was Hitler zu der Enthüllung durch Frank sagte. Er wird natürlich sehr bestürzt gewesen sein, durfte sich aber selbstverständlich vor Frank nichts anmerken lassen und tat daher so, als sei ihm das Berichtete nicht vollkommen neu; er sagte, er wisse aus den Erzählungen seines Vaters und seiner Großmutter, daß sein Vater nicht von dem Grazer Juden stamme. Da hat sich aber Adolf in der momentanen Verwirrung gründlich verrannt! Seine Großmutter lag schon mehr als vierzig Jahre im Grab, als er geboren wurde, die konnte ihm nichts erzählt haben! Und sein Vater? Der hätte es ihm erzählt haben müssen, als Adolf noch nicht vierzehn Jahre alt war, denn dann starb sein Vater; einem solchen Buben erzählt man nicht derartige Sachen und schon gar nicht sagt man ihm: "Dein Großvater war kein Jude", wenn ohnehin ein jüdischer Großvater nicht in Frage kam! Weiters antwortete Hitler, er wisse, daß sein Vater aus den vorehelichen Beziehungen seiner Großmutter mit ihrem späteren Manne stammt. Warum hatte er dann etliche Jahre vorher in seinem Buche geschrieben, sein Vater sei der Sohn eines armen, kleinen Häuslers? Der Müllergeselle, mit dem allein seine Großmutter, aber erst nachdem sie wieder in Döllersheim lebte, hätte voreheliche Beziehungen haben können, war nie in seinem Leben Häusler! Und die Großmutter der Gemeinheit bezichtigen, ob es nun Hitler tat oder Frank, sie habe einfach einen Zahlungskräftigen als Kindesvater angegeben, entspricht einer Denkungsart, wie sie unter verkommenen Subjekten üblich sein mag, beweist aber nichts für die Abstammung! Adolf Hitler wußte über seine Herkunft rein gar nichts! Man pflegt ja auch Kinder über so etwas nicht aufzuklären (Jetzinger, S. 30 f.).

Eine solche unerträgliche Verwirrung im Elternhaus kann dazu führen, daß das Kind Schulschwierigkeiten bekommt (weil das Wissen verboten, also bedrohlich und gefährlich ist). Auf jeden Fall wollte Adolf Hitler es später von jedem Bürger ganz genau, bis in die dritte Generation, wissen, ob nicht doch noch ein jüdischer Ahne "dahinter steckte".

Adolfs Schulversagen widmet Fest mehrere Überlegungen, darunter auch die, daß es auch nach dem Tode des Vaters andauerte, womit der Beweis erbracht werden soll, daß es nicht mit dem Vater in Zusammenhang stand. Dagegen läßt sich einiges geltend machen:
1. Die Zitate aus der Schwarzen Pädagogik zeigen sehr deutlich, wie gerne die Lehrer die Nachfolge der Väter bei der Züchtigung der Schüler antreten und welchen Gewinn sie zur narzißtischen Stabilisierung ihrer selbst daraus ziehen.
2. Als Adolfs Vater starb, war er ja bereits längst von seinem Sohn verinnerlicht worden, und die Lehrer boten sich nun als Vaterersatz an, bei dem man versuchen konnte, sich mit etwas mehr Erfolg zu wehren. Das Schulversagen gehört zu den wenigen Mitteln, die man hat, um den Lehrer (Vater) zu strafen.
3. Mit 11 Jahren wurde Adolf fast zu Tode geprügelt, als er sich aus einer für ihn unerträglichen Situation durch Flucht zu befreien versuchte. Damals starb auch sein Bruder Edmund, an dem er als dem Schwächeren vielleicht noch ein Stück Macht hatte erleben dürfen. Darüber wissen wir nichts. In diese Zeit fällt jedenfalls sein Schulversagen, das im Gegensatz zu den früheren guten Noten stand. Wer weiß, vielleicht hätte dieses aufgeweckte, begabte Kind noch einen anderen, humaneren Weg gefunden, um mit dem aufgestauten Haß umzugehen, wenn seine Neugier und Vitalität in den Schulen mehr Nahrung hätten finden können. Aber auch die Bekanntschaft mit geistigen Werten wurde ihm durch diese erste, tief gestörte Vaterbeziehung, die sich auf Lehrer und Schule übertrug, unmöglich gemacht.
Das in der Art des Vaters wütende Kind von damals befiehlt später, Bücher von freidenkenden Menschen zu verbrennen. Es sind Bücher, die Adolf haßte und nie gelesen hatte, aber vielleicht hätte lesen und verstehen können, wenn man ihm von Anfang an ermöglicht hätte, seine Fähigkeiten zu entwickeln. Das Verbrennen von Büchern und das Verdammen von Künstlern sind ja auch eine Rache dafür, daß dieses begabte Kind um den Genuß der Schule gebracht worden ist. Was hier gemeint ist, kann vielleicht mit Hilfe einer Geschichte verdeutlicht werden.

Ich saß einmal auf einer Bank im Park einer mir fremden Großstadt. Neben mich setzte sich ein alter Mann, der, wie er mir später sagte, bereits 82 Jahre alt war. Er fiel mir auf, weil er sehr beteiligt und respektvoll mit spielenden Kindern sprach, und ich ließ mich in ein Gespräch mit ihm ein, in dem er mir von seinen Erlebnissen als Soldat im ersten Weltkrieg erzählte. "Wissen Sie", sagte er, "ich habe in mir einen Schutzengel, der mich immer begleitet. So oft erlebte ich, daß alle meine Kameraden, von Granaten oder Bomben getroffen, tot umgefallen sind und ich, obwohl ich daneben stand, am Leben blieb und nicht einmal eine Wunde hatte." Es ist unwichtig, ob sich dies in allen Einzelheiten so abgespielt hatte, aber was dieser Mann ausdrückte, war eine Darstellung seines Selbst, des großen Vertrauens in sein Schicksal. So erstaunte es mich nicht, daß er auf meine Frage nach seinen Geschwistern antwortete: "die sind alle tot, ich war ein Nesthäkchen". Seine Mutter hätte "das Leben geliebt", erzählte er. Sie hätte ihn morgens im Frühling manchmal geweckt, um mit ihm dem Vogelgesang im Wald zu lauschen, noch bevor er in die Schule ging. Das waren die schönsten
Erlebnisse. Auf meine Frage, ob er geschlagen worden wäre, antwortete er: "Geschlagen wurde ich kaum, vielleicht ist dem Vater mal die Hand ausgerutscht, das machte mich jedesmal zornig, aber er tat es nie in Mutters Gegenwart, die hätte das niemals zugelassen. Aber wissen Sie", berichtete er, "einmal wurde ich grauenhaft geschlagen - vom Lehrer. In den ersten drei Klassen war ich der beste Schüler, in der vierten bekamen wir einen neuen Lehrer. Der hat mich einmal einer Tat beschuldigt, die ich nicht begangen hatte. Dann nahm er mich auf sein Zimmer und schlug und schlug und schrie dauernd wie ein Besessener: Wirst Du jetzt die Wahrheit sagen? Wie konnte ich aber? Ich hätte ja für ihn lügen müssen, und das hatte ich bisher nie getan, weil ich vor meinen Eltern keine Angst zu haben brauchte. Also hielt ich das Schlagen eine Viertelstunde aus, aber danach interessierte ich mich nicht mehr für die Schule und wurde ein schlechter Schüler. Es hat mich später oft geschmerzt, daß ich kein Abitur gemacht habe. Aber ich glaube, ich hatte damals keine andere Wahl."
Dieser Mann schien als Kind von seiner Mutter so geachtet worden zu sein, daß er selbst auch seine Gefühle respektieren und leben konnte. Deshalb merkte er, daß er auf den Vater zornig wurde, wenn diesem "die Hand ausrutschte", er merkte, daß ihn der Lehrer zur Lüge verführen und erniedrigen wollte, und er spürte auch die Trauer darüber, daß er für seine Würde und Treue zu sich selbst mit dem Verzicht auf die Bildung bezahlen mußte, weil es für ihn damals keinen anderen Weg gab. Es fiel mir auf, daß er nicht wie die meisten Menschen sagte: "Meine Mutter hat mich sehr geliebt", sondern er sagte: "Sie liebte das Leben", und ich erinnerte mich, daß ich das einmal über Goethes Mutter geschrieben hatte. Die schönsten Augenblicke erlebte dieser alte Mann mit seiner Mutter im Wald, als er ihre Freude an den Vögeln spürte, die sie mit ihm teilte. Diese warme Mutterbeziehung strahlte immer noch aus seinen alten Augen, und der Respekt seiner Mutter für ihn drückte sich unmißverständlich in der Art aus, in der er jetzt mit den spielenden Kindern sprach. In seiner Haltung war nichts Überhebliches, nichts Verniedlichendes, sondern einfach Aufmerksamkeit und Achtung.

Ich habe mich bei Hitlers Schulschwierigkeiten so lange aufgehalten, weil sie sowohl in ihren Ursachen als auch in den späteren Auswirkungen ein Beispiel für Millionen sind. Hitlers große und begeisterte Anhängerschaft bewies, daß sie ähnlich wie er strukturiert, d. h. ähnlich erzogen, war. Die heutigen Biographien zeigen, wie weit unser Denken noch von der Erkenntnis entfernt ist, daß ein Kind das Recht auf Respekt hat. Joachim Fest, der eine immense und gründliche Arbeit auf sich genommen hat, um Hitlers Leben zu schildern, kann dem Sohn nicht glauben, wie sehr er unter seinem Vater gelitten hat, und meint, Adolf "dramatisiere" nur die Schwierigkeiten mit dem Vater, als ob es überhaupt jemandem anstehen würde, darüber mehr zu wissen als Adolf Hitler selber. Über Fests Perspektive der Elternschonung wird man sich kaum wundern, wenn man bedenkt, wie wenig selbst die Psychoanalyse von ihr frei ist. Soweit ihre Anhänger noch - etwa im Sinne von Wilhelm Reich - meinen, lediglich um die Befreiung der Sexualität kämpfen zu müssen, übersehen sie ganz entscheidende Aspekte. Was ein Kind, das keine Achtung für sich erfahren und deshalb auch in sich nicht entwickeln konnte, mit der "befreiten" Sexualität macht, können wir auf dem "Babystrich" und in der Drogenszene sehen. Dort lernt man u. a. auch, in welche verhängnisvolle Abhängigkeiten (von anderen Menschen und vom Heroin) die "Freiheit" der Kinder führt, die keine ist, solange sie mit der eigenen Entwürdigung einhergeht.
Nicht nur das Schlagen der Kinder, sondern auch dessen Folgen sind so gut in unser Leben integriert, daß diese uns in ihrer Absurdität kaum mehr auffallen. Die "heldenhafte Bereitschaft" Jugendlicher, sich in Kriegen zu schlagen und (gerade am Beginn ihres Lebens!) für fremde Interessen zu fallen, mag auch damit zusammenhängen, daß sich in der Pubertät der frühkindliche, abgewehrte Haß nochmals intensiviert. Jugendliche können ihn von ihren Eltern ableiten, wenn sie ein eindeutiges Feindbild bekommen, das sie dann frei und erlaubtermaßen hassen dürfen. Aus diesem Grund sind wohl im ersten Weltkrieg so viele junge Maler und Dichter freiwillig an die Front gegangen. Die Hoffnung auf Befreiung aus den Zwängen des Elternhauses ließ sie die Wonnen der Marschmusik genießen. Das Heroin ersetzt unter anderem auch diese Funktion, nur daß sich hier die Zerstörungswut gegen den eigenen Körper und das eigene Selbst richtet.

Lloyd deMause, der sich als Psychohistoriker vor allem für Motivationen interessiert und die ihnen zugrundeliegenden Gruppenphantasien beschreibt, ist einmal der Frage nachgegangen, von welchen Phantasien die kriegserklärenden Völker beherrscht werden. Bei der Durchsicht seines Materials fiel ihm auf, daß unter den zahlreichen Äußerungen der Staatsmänner dieser Völker immer wieder Bilder auftauchten, die an den Vorgang der Geburt erinnern. Auffallend häufig ist da von Strangulierung die Rede, in der sich das kriegserklärende Volk angeblich befände und aus der es sich mit Hilfe des Krieges endlich zu befreien hoffe. L. deMause meint, in dieser Phantasie spiegle sich die reale Situation des Kindes während der Geburt, die in jedem Menschen als Trauma zurückbleibe und deshalb dem Wiederholungszwang unterworfen ist (vgl. L. de Mause, 1979).
Für die Richtigkeit dieser These könnte die Beobachtung sprechen, daß das Gefühl, stranguliert zu werden und sich befreien zu müssen, nicht bei den wirklich bedrohten Völkern, wie z. B. Polen 1939, vorkommt, sondern da, wo dies nicht real der Fall war, z. B. in Deutschland 1914 und 1939 oder bei Kissinger in der Zeit des Vietnamkrieges. Es handelt sich also bei der Kriegserklärung zweifellos um die Befreiung aus einer phantasierten Bedrohung, Beengung, Erniedrigung. Aus dem, was ich jetzt über die Kindheit weiß und was ich unter anderem am Beispiel von Adolf Hitler zu zeigen versuche, würde ich allerdings eher folgern, daß im Kriegswunsch nicht das Geburtstrauma, sondern andere Erfahrungen wiederbelebt werden. Auch die schwerste Geburt ist ein einmaliges, abgeschlossenes Trauma, das wir trotz unserer Kleinheit und Schwäche meistens aktiv oder mit Hilfe rettender Drittpersonen bewältigt haben. Im Gegensatz dazu ist die Erfahrung des Geschlagenwerdens, der seelischen Demütigung und Grausamkeit, die sich immer wiederholt, aus der es kein Entrinnen und in der es keine rettende Hand gibt, weil niemand diese Hölle als Hölle ansieht, ein immerwährender oder immer wieder neu erlebter Zustand, in dem es am Ende keinen erlösenden Schrei geben darf und der lediglich mit Hilfe der Abspaltung und Verdrängung vergessen werden kann. Es sind deshalb genau diese unbewältigten Erlebnisse, die sich im Wiederholungszwang einen Ausdruck verschaffen müssen. Im Jubel der Kriegserklärenden lebt die Hoffnung auf, die einstigen Erniedrigungen endlich rächen zu können, und vermutlich auch die Erlösung über die Erlaubnis zu hassen und zu schreien. Das einstige Kind ergreift die erste Chance, endlich aktiv sein zu können und nicht mehr schweigen zu müssen. Wo die Trauerarbeit nicht möglich war, wird im Wiederholungszwang versucht, die Vergangenheit ungeschehen zu machen und die einstige tragische Passivität mit Hilfe der heutigen Aktivität aus der Welt zu schaffen. Da dies aber nicht gelingen kann, weil Vergangenes nicht zu ändern ist, führen solche Kriege den Angreifer nicht zur Befreiung, sondern schließlich zur Katastrophe, auch im Falle der vorläufigen Siege.

Trotz dieser Überlegungen könnte man sich vorstellen, daß die Geburtsphantasie hier eine Rolle spielt. Für ein Kind, das täglich geschlagen wird und dabei schweigen muß, ist die Geburt vielleicht das einzige Ereignis in seiner Kindheit, aus dem es nicht nur in der Phantasie, sondern real als Sieger hervorgegangen ist: sonst hätte es ja nicht überlebt. Es hat sich durch die Enge hindurchgekämpft, durfte nachher schreien und wurde trotzdem von helfenden Händen versorgt. Läßt sich diese Seligkeit mit dem vergleichen, was später kam? Es wäre nicht verwunderlich, wenn wir uns mit diesem großen Triumph helfen wollten, über die Niederlagen und die Verlassenheit der späteren Zeit hinwegzukommen. In diesem Sinne wären die Assoziationen zum Geburtstrauma während der Kriegserklärung als Abwehr des tatsächlichen, verborgenen Traumas, das nirgends in der Gesellschaft ernstgenommen wird und deshalb auf Inszenierungen angewiesen ist, zu verstehen. In Adolf Hitlers Leben gehören die "Burenkriege" der Schulzeit, Mein Kampf und der Zweite Weltkrieg zur sichtbaren Spitze des Eisberges. Die verborgene Vorgeschichte einer solchen Entwicklung kann nicht in der Erfahrung des Durchgangs durch den Geburtskanal gesucht werden, die Hitler mit allen Menschen teilt. Aber nicht alle Menschen wurden als Kinder so wie er gequält.

Was hat der Sohn nicht alles unternommen, um das Trauma der väterlichen Schläge zu vergessen: Er hat sich die herrschende Klasse Deutschlands unterworfen, er hat die Massen gewonnen, sich die Regierungen Europas gefügig gemacht. Er besaß eine beinahe unbeschränkte Macht. Aber nachts, im Schlaf, wenn das Unbewußte dem Menschen die frühkindlichen Erfahrungen mitteilt, gab es kein Entrinnen: Da erschien ihm sein furchterregender Vater, und das Grauen breitete sich aus. Rauschning schreibt (S. 273):

Aber er hat Zustände, die an Verfolgungswahnsinn und Persönlichkeitsspaltung nahe heranreichen. Seine Schlaflosigkeit ist mehr als nur die Überreizung seines Nervensystems. Er wacht oft des Nachts auf. Er wandert ruhelos umher. Dann muß Licht um ihn sein. Neuerdings läßt er sich dann junge Leute kommen, die die Stunden eines offenbaren Grauens mit ihm teilen müssen. Zu Zeiten müssen diese Zustände einen besonders bösartigen Charakter angenommen haben. Mir hat jemand aus seiner engsten täglichen Umgebung berichtet: er wache des Nachts mit Schreikrämpfen auf. Er schreie um Hilfe. Auf seiner Bettkante sitzend könne er sich nicht rühren. Die Furcht schüttle ihn, sodaß das ganze Bett vibriere. Er stoße verworrene, völlig unverständliche Worte hervor. Er keuche, als glaube er ersticken zu müssen. Der Mann erzählte mir eine Szene, die ich nicht glauben würde, wenn sie nicht aus solcher Quelle käme. Taumelnd habe er im Zimmer gestanden, irr um sich blickend. "Er! Er! Er ist dagewesen", habe er gekeucht. Die Lippen seien blau gewesen. Der Schweiß habe nur so an ihm heruntergetropft. Plötzlich habe er Zahlen vor sich hergesagt. Ganz sinnlos. Einzelne Worte und Satzbrocken. Es habe schauerlich geklungen. Merkwürdig zusammengesetzte Wortbildungen habe er gebraucht, ganz fremdartig. Dann habe er wieder ganz still gestanden und die Lippen bewegt. Man habe ihn abgerieben, habe ihm etwas zu Trinken eingeflößt. Dann habe er plötzlich losgebrüllt: "Da, da! in der Ecke! Wer steht da?" Er habe aufgestampft, habe geschrien wie man das an ihm gewohnt sei. Man habe ihm gezeigt, daß da nichts Ungewöhnliches sei, und dann habe er sich allmählich beruhigt. Viele Stunden hätte er danach geschlafen. Und dann sei es für eine Zeit wieder erträglich mit ihm gewesen.
Obwohl (oder weil) die meisten Menschen in Hitlers Umgebung einst geschlagene Kinder waren, hat niemand den Zusammenhang zwischen seiner panischen Angst und den "unverständlichen Zahlen" begriffen. Die in der Kindheit unterdrückten Gefühle der Angst beim Zählen der Schläge überfielen nun den Erwachsenen auf dem Höhepunkt seines Erfolges in Form von Alpträumen, plötzlich und unentrinnbar, in der Einsamkeit der Nacht.
Die ganze Welt hätte als Opfer nicht ausgereicht, um den verinnerlichten Vater von Adolf Hitlers Schlafzimmer fernzuhalten, denn das eigene Unbewußte wird mit der Vernichtung der Welt nicht vernichtet. Aber die Welt hätte trotzdem herhalten müssen, wenn Hitler noch länger am Leben geblieben wäre, denn die Quelle seines Hasses floß ununterbrochen - auch im Schlaf. . .

Für Menschen, denen die Kräfte des Unbewußten nie zum Erlebnis geworden sind, mag es naiv klingen, wenn jemand Hitlers Werk von seiner Kindheit her zu verstehen versucht. Es gibt immer noch viele Männer (und Frauen), die der Meinung sind, "Kindersachen seien Kindersachen" und Politik sei etwas Ernsthaftes, etwas für erwachsene Leute, kein Kinderspiel. Diese Menschen finden die Verknüpfungen mit der Kindheit befremdend oder lächerlich, weil sie die Wahrheit dieser Zeit - begreiflicherweise - völlig vergessen möchten. Hitlers Leben eignet sich aber deshalb besonders gut für einen Anschauungsunterricht, weil die Kontinuität hier so deutlich zu fassen ist. Schon als kleiner Junge lebt er seine Sehnsucht nach Befreiung aus dem väterlichen Joch in den gespielten Kriegen. Er führt zuerst die Indianer, dann die Buren zum Kampf gegen die Unterdrücker: "Nicht lange dauerte es, und der große Heldenkampf war mir zum größten inneren Erlebnis geworden", schreibt er in Mein Kampf, und an anderer Stelle zeichnet sich der verhängnisvolle Weg vom Spiel aus kindlicher Not zum gefährlichen Ernst: "Von nun an schwärmte ich mehr und mehr für alles, was irgendwie mit Krieg oder mit Soldatentum zusammenhing" (Mein Kampf, zitiert nach Toland, S. 31).

Hitlers Deutschlehrer, Dr. Huemer, berichtet, daß Adolf in der Pubertät "Belehrungen und Mahnungen seiner Lehrer … nicht selten mit schlecht verhülltem Widerwillen entgegengenommen (hatte); wohl aber verlangte er von seinen Mitschülern unbedingte Unterordnung" (vgl. Toland, S. 77). Die frühe Identifizierung mit dem tyrannischen Vater führte dazu, daß Adolf, nach der Aussage eines Zeugen aus Braunau, schon als ganz kleiner Junge, auf einem Hügel stehend, "lange und leidenschaftliche Reden hielt".² Braunau bedeutete die ersten drei Lebensjahre, so früh hat also die Führerlaufbahn begonnen. In diesen Reden spielte das Kind die Reden des großartigen Vaters, so wie es ihn damals gesehen hatte, und erlebte zugleich im Publikum sich selbst als das staunende, bewundernde Kind der ersten Lebensjahre
Diese Funktion hatten später die organisierten Massenauftritte, in denen der frühkindliche Teil des Führers auch untergebracht war. Die narzißtische, symbiotische Einheit von Führer und Volk kommt sehr klar in den Worten seines Jugendfreundes Kubizek, vor dem Hitler viele Reden hielt, zum Ausdruck. John Toland schreibt:

Sie wirkten auf Kubizek wie "vulkanische Entladungen"; er empfand sie als bühnenreife Darstellung und war "anfangs nicht mehr als ein betroffener und fassungsloser Zuhörer, der vor Staunen am Ende zu applaudieren vergaß". Erst allmählich erkannte Kubizek, dass es sich nicht im entferntesten um Theater handelte, sondern daß sein Freund dabei "von tödlichem Ernst" erfüllt war. Zugleich wurde ihm klar, daß Hitler von ihm nur eines erwartete: Zustimmung. Kubizek, der mehr von der Art und dem Stil dieser leidenschaftlichen Vorträge als von ihrem Inhalt hingerissen war, geizte nicht damit. . . . Adolf schien genau zu spüren, was Kubizek fühlte. "Er empfand alles, was mich bewegte, so unmittelbar, als wäre es ihm selbst geschehen. . . Ich hatte manches Mal das Gefühl, als würde er neben seinem eigenen Leben auch meines mitleben" (Toland, S. 41).

Es gibt wohl keinen besseren Kommentar zum Verständnis der legendären Hitlerschen Verführungskunst: während die Juden den gedemütigten, geschlagenen Teil seines kindlichen Selbst repräsentierten, den er mit allen Mitteln aus der Welt zu schaffen suchte, war das ihm huldigende deutsche Volk, hier von Kubizek dargestellt, der gute und schöne Teil seiner Seele, die den Vater liebt und vom Vater geliebt wird. Das deutsche Volk und der Schulkamerad übernehmen die Rolle des guten Kindes Adolf. Der Vater schützt die reine, kindliche Seele auch vor eigenen Gefahren, indem er "die bösen Juden", d. h. auch die "bösen Gedanken" vertreiben und vernichten läßt, damit endlich die ungestörte Einheit zwischen Vater und Sohn einziehen kann.
Diese Ausführungen sind natürlich nicht für Menschen geschrieben, die "Träume für Schäume" und das Unbewußte für eine Erfindung "des kranken Geistes" halten. Doch ich könnte mir vorstellen, daß auch diejenigen, die sich mit dem Unbewußten bereits befaßt haben, meinem Versuch, Hitlers Handlungen aus seiner Kindheit heraus verstehen zu wollen, mit Mißtrauen oder Entrüstung begegnen, weil sie mit dieser ganzen "unmenschlichen Geschichte" nichts zu. tun haben möchten. Aber können wir wirklich annehmen, daß der liebe Gott plötzlich die Idee hatte, eine "nekrophile Bestie" auf die Erde herunterzuschicken, etwa im Sinne der Worte von Erich Fromm, der schrieb:

Wie läßt es sich erklären, daß diese beiden gutmeinenden, stabilen, sehr normalen und sicherlich nicht destruktiven Menschen das spätere Ungeheuer Adolf Hitler in die Welt setzten? (zitiert nach Stierlin, 1975, S. 36).

Ich zweifle nicht daran, daß sich hinter jedem Verbrechen eine persönliche Tragödie verbirgt. Wenn wir diesen Geschichten und Vorgeschichten der Verbrechen genauer nachgehen würden, könnten wir möglicherweise mehr tun, um neue zu verhindern, als mit unserer Entrüstung und mit Moralpredigten. Vielleicht wird jemand sagen: Nicht jeder, der als Kind geschlagen wurde, muß ein Mörder werden, sonst würden doch fast alle Menschen zu Mördern. Das ist in gewissem Sinn richtig. Doch so friedlich ist es heute nicht um die Menschheit bestellt, und wir wissen nie, was ein Kind aus dem ihm gegenüber begangenen Unrecht machen wird und muß, es gibt unzählige "Techniken", damit umzugehen. Aber vor allem wissen wir noch nicht, wie die Welt aussehen könnte, wenn Kinder ohne Demütigungen, von ihren Eltern als Menschen geachtet und ernstgenommen, aufwachsen würden. Mir ist jedenfalls kein Mensch bekannt, der als Kind diese Achtung* genossen und später als Erwachsener das Bedürfnis gehabt hätte, andere Menschen umzubringen. * Mit Achtung des Kindes meine ich aber keineswegs die sog. antiautoritäre Erziehung, sofern diese eine Indoktrinierung des Kindes ist und deshalb seine eigene Welt mißachtet (vgl. S. 121).
Doch der Sinn für die Entwürdigung des Kindes ist noch kaum in uns entwickelt. Der Respekt für das Kind und das Wissen um seine Demütigung sind eben keine intellektuellen Angelegenheiten, sonst wären sie schon längst zum Allgemeingut geworden. Mit dem Kind zu fühlen, was es empfindet, wenn es entblößt, gekränkt, gedemütigt wird, bedeutet zugleich, daß man wie im Spiegel plötzlich dem Leiden der eigenen Kindheit begegnet, was viele Menschen aus Angst abwehren müssen, andere wieder mit Trauer akzeptieren können. Menschen, die diesen Weg der Trauer gegangen sind, verstehen dann von der Dynamik des Seelischen mehr, als sie je aus Büchern hätten erfahren können.
Die Jagd auf Menschen mit jüdischer Herkunft, die Notwendigkeit, eine "reine Rasse" bis zur dritten Generation aufzuweisen, die Abstufung der Verbote je nach nachweisbarer Rassenreinheit sind nur auf den ersten Blick grotesk. Denn sie erschließen erst ihren Sinn, wenn man sich vorstellt, daß sie in der unbewußten Phantasie von Adolf Hitler zwei sehr starke Tendenzen verdichteten: einerseitswar sein Vater der gehaßte Jude, den er verachten und jagen, mit Vorschriften bedrohen und ängstigen konnte, denn sein Vater wäre ja auch vom Rassengesetz betroffen worden, wenn er noch am Leben gewesen wäre. Zugleich aber - und das ist die andere Tendenz - sollten die Rassengesetze die Lossagung Adolfs vom Vater und seiner Herkunft besiegeln. Neben der Rache am Vater war auch die quälende Ungewißheit der Hitler-Familie ein wichtiges Motiv der Rassengesetze: das ganze Volk mußte sich bis zur dritten Generation ausweisen, weil Adolf Hitler gerne mit Sicherheit gewußt hätte, wer sein Großvater gewesen war. Und vor allem wird der Jude zum Träger aller bösen und verachtenswerten Eigenschaften, die das Kind je am Vater beobachtet hat. In der für Hitlers Vorstellung vom Judentum charakteristischen ganz spezifischen Mischung von luziferischer Größe und Übermacht (das Weltjudentum und seine Bereitschaft, die ganze Welt zu zerstören) einerseits und der lächerlichen Schwäche und Gebrechlichkeit des häßlichen Juden andererseits spiegelt sich die Allmacht, die auch der schwächste Vater über sein Kind besitzt: der aus Unsicherheit tobende Zollbeamte, der tatsächlich die Welt des Kindes zerstört.
In Analysen kommt es oft vor, daß sich der erste Durchbruch zur Kritik am Vater im Auftauchen einer verdrängten kleinen Lächerlichkeit den Weg bahnt. Der überdimensionierte große Vater sah z. B. in seinem kurzen Nachthemd so komisch aus. Das Kind hatte nie einen nahen Kontakt mit diesem Vater, fürchtete ihn ständig, aber in diesem Bild mit dem kurzen Nachthemd erhielt es sich in der Phantasie ein Stück Rache, das jetzt, wenn die Ambivalenz in der Analyse durchbricht, als Waffe gegen das göttliche Monument verwendet wird. Ähnlich verbreitet Hitler im Stürmer seinen Haß und Ekel gegen den "stinkenden" Juden, um Menschen zum Verbrennen der Werke von Freud, Einstein und unzähliger jüdischer Intellektueller, die wirklich Größe besaßen, animieren zu können. Der Durchbruch zu dieser Idee, die eine Übertragung aufgestauten Hasses vom Vater auf die Juden als Volk ermöglicht, ist sehr aufschlußreich; er wird in der folgenden Stelle aus Mein Kampf beschrieben:

Seit ich mich mit dieser Frage zu beschäftigen begonnen hatte, auf den Juden erst einmal aufmerksam wurde, erschien mir Wien in einem anderen Lichte als vorher. Wo immer ich ging, sah ich nun Juden, und je mehr ich sah, um so schärfer sonderten sie sich für das Auge von den anderen Menschen ab. Besonders die innere Stadt und die Bezirke nördlich des Donaukanals wimmelten von einem Volke, das schon äußerlich eine Ähnlichkeit mit dem deutschen nicht mehr besaß. . . Dies alles konnte schon nicht sehr anziehend wirken; abgestoßen mußte man aber werden, wenn man über die körperliche Unsauberkeit hinaus plötzlich die moralischen Schmutzflecken des auserwählten Volkes entdeckte. Gab es denn da einen Unrat, eine Schamlosigkeit in irgendeiner Form, vor allem des kulturellen Lebens, an der nicht wenigstens ein Jude beteiligt gewesen wäre? Sowie man nur vorsichtig in eine solche Geschwulst hineinschnitt, fand man, wie die Made im faulenden Leibe, oft ganz geblendet vom plötzlichen Lichte, ein Jüdlein . . . Ich begann sie allmählich zu hassen (zitiert nach Fest, S. 63).

Wenn es gelingt, seinen ganzen aufgestauten Haß auf ein Objekt zu richten, ist es zunächst wie eine große Erlösung. ("Wo immer ich ging, sah ich nun Juden. . .") Die bisher verbotenen, gemiedenen Gefühle bekommen nun freien Lauf. Je mehr man von ihnen erfüllt und bedrückt war, um so glücklicher fühlt man sich, endlich ein Ersatzobjekt gefunden zu haben. Der eigene Vater wird vom Haß verschont, und die Staudämme lassen sich jetzt aufheben, ohne daß man dafür geschlagen wird.
Aber die Ersatzbefriedigung sättigt nicht - an keinem Beispiel läßt sich das besser demonstrieren als an Adolf Hitler. Es hat wohl kaum je ein Mensch Hitlers Macht besessen, in diesem Maße ungestraft Leben zu vernichten, und all das konnte ihm trotzdem keine Ruhe bringen. Sein Testament zeigt das sehr eindrücklich.

Man sieht mit Staunen, wie genau das Kind die Art seines Vaters gespeichert hat, wenn man den Zweiten Weltkrieg erlebt hat und Stierlins Charakteristik des Vaters von Adolf Hitler liest:

Es sieht jedoch so aus, als sei dieser soziale Aufstieg nicht ohne Kosten für ihn selbst und andere möglich gewesen. Alois war zwar gewissenhaft, pflichtbewußt und fleißig, aber auch emotionallabil, ungewöhnlich rastlos und möglicherweise zeitweilig geistesgestört. Zumindest eine Quelle legt nahe, daß er einmal in einem Asyl für Geisteskranke untergebracht war. Auch hatte er nach der Meinung eines Psychoanalytikers psychopathische Züge, die sich etwa in dem Geschick bewiesen, mit dem er Regeln und Dokumente für seine eigenen Zwecke auszulegen und zurechtzustutzen und dabei zugleich die Fassade der Legitimität zu wahren vermochte. Er vereinte, kurz gesagt, großen Ehrgeiz mit einem durchaus flexiblen Gewissen. Als er beispielsweise wegen seiner Heirat mit Klara (die rechtlich seine Cousine war) um päpstlichen Dispens nachsuchte, strich er die zwei kleinen mutterlosen Kinder heraus, die Klaras Fürsorge bedurften, unterließ es aber, Klaras Schwangerschaft zu erwähnen (Stierlin, 1975, S. 68).

Nur das Unbewußte eines Kindes kann einen Elternteil so genau kopieren, daß jeder Zug in ihm später auffindbar ist, auch wenn sich die Biographen nicht darum kümmern.

Die Mutter- ihre Stellung in der Familie und ihre Rolle in Adolfs Leben

Alle Biographen sind sich darüber einig, daß Klara Hitler ihren Sohn "sehr liebte und verwöhnte". Zunächst muß man sagen, daß dieser Satz einen Widerspruch in sich enthält, wenn man Liebe so versteht, daß die Mutter für die wahren Bedürfnisse des Kindes offen und hellhörig ist. Gerade wenn das fehlt, wird das Kind verwöhnt, d. h. mit Gewährungen und Dingen überhäuft, die es nicht braucht, und dies nur als Ersatz für das, was man dem Kind aus eigener Not eben nicht zu geben vermag. Gerade die Verwöhnung zeigt also einen ernsten Mangel an, den das spätere Leben bestätigt. Wenn Adolf Hitler tatsächlich ein geliebtes Kind gewesen wäre, dann wäre auch er liebesfähig geworden. Seine Beziehungen zu Frauen, seine Perversionen (vgl. Stierlin, S. 168) und seine ganze distanzierte und im Grunde kalte Beziehung zu Menschen zeigen aber, daß er von keiner Seite Liebe erfahren hat.

Bevor Adolf auf die Welt kam, hatte Klara drei Kinder, die alle innerhalb eines Monats an Diphtherie starben. Die zwei ersten erkrankten vielleicht noch vor der Geburt des dritten Kindes, das dann ebenfalls nach drei Tagen starb. 13 Monate später wurde Adolf geboren. Ich übernehme die sehr übersichtliche Tabelle von Stierlin:

 

Geboren

Gestorben

Alter zur Zeit des Todes

1. Gustav (Diphtherie)

17.5.1885

8.12.1887

2 Jahre, 7 Monate

2. Ida (Diphtherie)

23.9.1886

2.1.1888

1 Jahr, 4 Monate

3. Otto (Diphtherie)

1887

1887

ungefähr drei Tage

4. Adolf

20.4.1889

   

5. Edmund (Masern)

24.3.1894

2.2.1900

fast 6 Jahre

6. Paula

21.1.1896

   

Die schöne Legende zeigt Klara als liebevolle Mutter, die nach dem Tod ihrer drei ersten Kinder ihre ganze Zärtlichkeit Adolf geschenkt hat. Es ist vielleicht kein Zufall, daß alle Biographen, die dieses liebliche Madonnenbild zeichneten, Männer waren. Eine redliche Frau von heute, die selber Mutter war oder ist, kann sich vielleicht etwas realistischer die Ereignisse vorstellen, die Adolfs Geburt vorausgegangen waren, und sich ein genaueres Bild darüber machen, in welcher emotionalen Umwelt sich sein erstes, für die Sicherheit des Kindes so entscheidendes Lebensjahr vollzogen hat.
Mit 16 Jahren zieht Klara Pötzl in das Haus ihres "Onkel Alois", wo sie sich um seine kranke Ehefrau und seine zwei Kinder kümmern sollte. Dort wird sie später noch vor dem Tod seiner Frau vom Herrn des Hauses geschwängert, dann mit 24 Jahren vom 48jährigen Alois geheiratet, bringt innerhalb von zweieinhalb Jahren drei Kinder auf die Welt und verliert alle drei innerhalb von 4-5 Wochen. Versuchen wir uns das genau vorzustellen: Das erste Kind, Gustav, erkrankt im November an Diphtherie, Klara kann es kaum pflegen, weil sie bereits dabei ist, das dritte Kind, Otto, zur Welt zu bringen, das wahrscheinlich von Gustav mit Diphtherie angesteckt wird und nach drei Tagen stirbt. Kurz danach, vor Weihnachten, stirbt auch Gustav und drei Wochen später das Mädchen Ida. So hat Klara innerhalb von 4-5 Wochen eine Geburt und den Tod von drei Kindern überstanden. Eine Frau muß nicht besonders sensibel sein, um durch einen solchen Schock, dazu neben einem herrischen und fordernden Mann, selber noch im Alter der Adoleszenz, aus dem Gleichgewicht zu geraten. Vielleicht erlebte die praktizierende Katholikin diesen dreifachen Tod als Gottes Strafe für ihre unehelichen Beziehungen mit Alois, vielleicht machte sie sich Vorwürfe, daß sie, durch ihre dritte Geburt verhindert, Gustav nicht genug gepflegt hatte. Auf jeden Fall muß eine Frau aus Holz sein, um von diesen Schicksalsschlägen unberührt zu bleiben; aus Holz war Klara nicht. Aber niemand konnte ihr helfen, die Trauer zu erleben, ihre ehelichen Pflichten bei Alois gingen weiter, noch im gleichen Jahr des Todes von Ida wird sie wieder schwanger, und im April des nächsten Jahres gebiert sie Adolf. Gerade weil sie ihre Trauer unter diesen Umständen kaum verarbeiten konnte, mußte die Geburt eines neuen Kindes den kürzlich erfahrenen Schock wieder aktivieren, in ihr die größten Ängste und das Gefühl einer tiefen Unsicherheit in bezug auf ihre Fähigkeiten zur Mutterschaft mobilisieren. Welche Frau mit dieser Vergangenheit hätte nicht schon während der Schwangerschaft Ängste vor einer Wiederholung? Es ist kaum denkbar, daß ihr Sohn in der ersten symbiotischen Zeit neben seiner Mutter das Gefühl von Ruhe, Zufriedenheit und Geborgenheit mit der Muttermilch in sich eingesogen hat. Es ist wahrscheinlicher, daß die Unruhe seiner Mutter, die durch die Geburt Adolfs aufgerissenen, frischen Erinnerungen an die drei toten Kinder und die bewußte oder unbewußte Angst, daß auch dieses Kind sterbe, direkt mit den Gefühlen des Säuglings wie zwei miteinander verbundene Gefäße kommuniziert haben. Den Ärger auf ihren selbstbezogenen Mann, der sie mit ihren seelischen Leiden allein ließ, durfte Klara ja auch nicht bewußt erleben; um so mehr hat ihn der Säugling, den man ja nicht wie den Herrscher zu fürchten braucht, zu spüren bekommen. Das alles ist Schicksal; den daran Schuldigen zu suchen, wäre müßig. Viele Menschen hatten ähnliche Schicksale. Z. B. Novalis, Hölderlin, Kafka, die den Tod mehrerer Geschwister erlebten, wurden dadurch stark geprägt, aber sie hatten die Möglichkeit, ihr Leiden auszudrücken.
Im Falle Adolf Hitlers kam hinzu, daß er seine Gefühle und die aus der frühen gestörten Mutterbeziehung stammende tiefe Beunruhigung mit niemandem teilen konnte und gezwungen war, sie zu unterdrücken, um beim Vater nicht aufzufallen und nicht neue Schläge zu provozieren. Es blieb nur die Identifikation mit dem Aggressor.
Dazu kommt ein anderer Umstand, der aus dieser ungewöhnlichen Familienkonstellation resultiert: Mütter, die ein Kind nach einem verstorbenen gebären, idealisieren oft das verstorbene Kind (wie die verpaßten Chancen eines unglücklichen Lebens). Das lebende Kind fühlt sich dann angespornt, sich ganz besonders anzustrengen und Außergewöhnliches zu leisten, um dem toten nicht nachzustehen. Aber die wahre Liebe der Mutter gehört meistens dem toten, idealisierten Kind, das in ihrer Phantasie alle Vorzüge aufzuweisen hätte - wäre es nur am Leben geblieben. Das gleiche Schicksal hatte van Gogh, wobei dort nur ein Bruder gestorben war.

Es konsultierte mich einmal ein Patient, der in einer auffallend schwärmerischen Art von seiner glücklichen und harmonischen Kindheit sprach. Ich bin an solche Idealisierungen gewöhnt, aber hier fiel mir im Ton etwas auf, das ich noch nicht verstehen konnte. Im Lauf des Gespräches stellte sich heraus, daß dieser Mann eine Schwester gehabt hatte, die mit knapp zwei Jahren gestorben war und die offenbar für ihr Alter übermenschliche Fähigkeiten hatte: sie konnte angeblich die Mutter pflegen, wenn diese krank war, sie konnte ihr Lieder singen, "um sie zu beruhigen", konnte ganze Gebete auswendig usw. Als ich den Mann fragte, ob er meine, das sei in dem Alter möglich, schaute er mich an, als ob ich das größte Sakrileg begangen hätte, und sagte: "Normalerweise nicht, aber bei diesem Kind war es so - es war eben ein ganz außergewöhnliches Wunder". Ich sagte ihm, daß Mütter ihre verstorbenen Kinder sehr oft stark idealisieren, erzählte ihm die Geschichte von van Gogh und meinte, es sei für das lebende Kind manchmal sehr schwer, immer mit einem so großartigen Bild verglichen zu werden, dem man ja nie gewachsen sein könne. Der Mann fing wieder an, mechanisch über die Fähigkeiten seiner Schwester zu sprechen und wie schrecklich es sei, daß sie gestorben wäre. Dann, ganz plötzlich, hielt er inne und wurde von Trauer geschüttelt - wie er glaubte - über den Tod der Schwester, der beinahe 35 Jahre zurücklag. Ich hatte den Eindruck, daß er da vielleicht zum ersten Mal Tränen über sein eigenes Kinderschicksal vergoß, denn diese Tränen waren echt. Jetzt erst verstand ich auch den fremden, künstlichen Ton in seiner Stimme, der mir am Anfang der Stunde aufgefallen war. Vielleicht hat er mir unbewußt vorführen müssen, wie seine Mutter über ihre Erstgeborene gesprochen hatte. Er sprach so überschwenglich über seine Kindheit wie die Mutter über das verstorbene Kind, zugleich aber teilte er mir in diesem unechten Ton die dahinterliegende Wahrheit über sein Schicksal mit.
An diese Geschichte muß ich oft denken, wenn Menschen mich besuchen, die eine ähnliche Familienkonstellation hatten. Wenn ich sie darauf anspreche, erfahre ich immer wieder, welcher Kult da mit den Gräbern der verstorbenen Kinder getrieben wird, der oft jahrzehntelang andauert. Je bedürftiger das narzißtische Gleichgewicht der Mutter, um so mehr versäumte Möglichkeiten malt sie sich im verstorbenen Kind aus. Dieses Kind hätte ihr alle eigenen Entbehrungen, jedes Leid beim Ehepartner und alle Sorgen mit den schwierigen lebenden Kindern kompensiert. Es wäre ihr die ideale, vor allem Leid beschützende "Mutter" gewesen - wenn es nur am Leben geblieben wäre.

Da Adolf als erstes Kind nach drei verstorbenen Kindern auf die Welt kam, kann ich mir nicht vorstellen, daß die Beziehung seiner Mutter zu ihm als nur "hingebungsvolle Liebe" aufgefaßt werden kann, wie das die Biographen schildern. Sie meinen alle, Hitler hätte zuviel Liebe von seiner Mutter erhalten (sie sehen in der Verwöhnung oder, wie sie sich ausdrücken, in der "oralen Verwöhnung" ein Übermaß an Liebe) und deshalb sei er so gierig nach Bewunderung und Anerkennung gewesen. Weil er eine so gute und lange Symbiose mit seiner Mutter gehabt hätte, soll er sie immer wieder auch in der narzißtischen Verschmelzung mit den Massen gesucht haben. Solche Sätze findet man manchmal auch in den psychoanalytischen Krankengeschichten.
Es scheint mir, daß ein tief in uns allen verankertes Erziehungsprinzip bei solchen Deutungen wirksam ist. Man findet in Erziehungsschriften immer wieder den Ratschlag, man solle Kinder nicht mit zu viel Liebe und Rücksicht (was als "Affenliebe" bezeichnet wird) "verwöhnen", sondern von Anfang an für das richtige Leben abhärten. Psychoanalytiker drücken sich hier anders aus, z. B. meinen sie, "man müsse das Kind vorbereiten, Frustrationen zu ertragen", als ob ein Kind das nicht von selbst im Leben lernen könnte. Im Grunde ist es nämlich genau umgekehrt: ein Kind, das einst echte Zuwendung bekommen hat, kann besser als Erwachsener ohne diese auskommen als jemand, der sie nie wirklich erhalten hat. Wenn also ein Mensch nach Zuwendung süchtig oder "gierig" ist, ist das immer ein Zeichen, daß er etwas sucht, was er nie hatte und nicht, daß er etwas nicht aufgeben will, weil er in der Kindheit zuviel davon bekommen hat.
Es kann etwas von außen als Gewährung erscheinen, ohne es zu sein. So kann ein Kind mit Nahrung, Spielzeug, Sorge (!) verwöhnt werden, ohne je wirklich als das, was es war, gesehen und beachtet worden zu sein. Am Beispiel Hitlers ist es doch zumindest leicht vorstellbar, daß er niemals als Hasser seines Vaters, der er doch im Grunde auch war, von seiner Mutter geliebt worden wäre. Wenn seine Mutter zur Liebe und nicht nur zur genauen Pflichterfüllung je fähig gewesen ist, so muß ihre Bedingung gewesen sein, daß er ein braver Junge sein und dem Vater alles "verzeihen und vergessen" solle. Eine aufschlußreiche Stelle bei Smith zeigt, wie wenig Adolfs Mutter in der Lage gewesen wäre, ihm in seiner Not mit dem Vater beizustehen:

Das dominierende Gehabe des Hausherrn flößte seiner Frau und den Kindern dauernden Respekt, wenn nicht Furcht ein. Selbst nach seinem Tod blieben seine Pfeifen ehrfurchtgebietend auf einem Gestell in der Küche aufgereiht, und wenn immer seine Witwe im Gespräch etwas Besonderes unterstreichen wollte, verwies sie mit einer Geste auf die Pfeifen, als ob sie die Autorität des Meisters beschwören wolle (zitiert nach Stierlin, Seiten 21/22).

Da Klara die "Ehrfurcht" vor ihrem Mann noch nach seinem Tod auf seine Pfeifen übertrug, kann man sich kaum vorstellen, daß sich ihr Sohn ihr gegenüber mit seinen wahren Gefühlen je hätte anvertrauen dürfen. Besonders, da seine drei verstorbenen Geschwister in der Phantasie seiner Mutter doch sicher "immer brav" gewesen waren und nun im Himmel ohnehin nichts Böses mehr anstellen konnten.
Adolf konnte also die Zuwendung seiner Eltern nur auf Kosten einer vollständigen Verstellung und Verleugnung seiner wahren Gefühle bekommen. Daraus entstand seine ganze Lebenshaltung, die Fest wie einen roten Faden in Hitlers Geschichte herausspürt. Am Anfang seiner Hitler-Biographie stehen die folgenden sehr zutreffenden, zentralen Sätze:

Die eigene Person zu verhüllen wie zu verklären, war eine der Grundanstrengungen seines Lebens. Kaum eine Erscheinung der Geschichte hat sich so gewaltsam, mit so pedantisch anmutender Konsequenz stilisiert und im Persönlichen unauffindbar gemacht. Die Vorstellung, die er von sich hatte, kam einem Monument näher als dem Bild eines Menschen. Zeitlebens war er bemüht, sich dahinter zu verbergen (Fest, 1978, S. 29).

Ein Mensch, der die Liebe der Mutter erfahren hat, muß sich niemals so verstellen.
Adolf Hitler suchte systematisch den Kontakt zu seiner Vergangenheit abzuschneiden, seinen Halbbruder Alois ließ er gar nicht an sich heran, seine Schwester Paula, die ihm den Haushalt machte, zwang er, den Namen zu wechseln. Aber auf der weltpolitischen Bühne inszenierte er unbewußt sein wahres Kindheitsdrama - unter anderen Vorzeichen. Er war nun, wie einst sein Vater, der einzige Diktator, der einzige, der etwas zu sagen hatte. Die anderen hatten zu schweigen und zu gehorchen. Er war der, der Angst einflößte, aber auch die Liebe des Volkes besaß, das zu seinen Füßen lag, wie damals die untertänige Klara zu Füßen ihres Mannes.
Die besondere Faszination, die Hitler bei Frauen genoß, ist ja bekannt. Er verkörperte für sie den Vater, der ganz genau wußte, was richtig und falsch war und ihnen dazu noch ein Ventil für ihren seit der Kindheit aufgestauten Haß anbieten konnte. Diese Kombination verschaffte Hitler bei Frauen und Männern seine große Anhängerschaft. Denn all diese Menschen waren einst zum Gehorsam erzogen worden, in Pflicht und christlichen Tugenden aufgewachsen; sie hatten schon sehr früh lernen müssen, ihren Haß und ihre Bedürfnisse zu unterdrücken.

Und nun kam ein Mensch, der diese ihre bürgerliche Moral an sich nicht in Frage stellte, der im Gegenteil ihre anerzogene, gehorsame Haltung gerade noch gut gebrauchen konnte, der sie also nirgends mit Fragen oder inneren Krisen konfrontierte, statt dessen ihnen ein universales Mittel in die Hand gab, um endlich den seit den ersten Tagen ihres Lebens unterdrückten Haß auf völlig legale Art ausleben zu können. Wer würde nicht davon Gebrauch machen? Der Jude wurde jetzt schuld an allem, und die wirklichen ehemaligen Verfolger, die eigenen, oft wirklich tyrannischen Eltern, konnten in Ehren geschützt und idealisiert bleiben.

Ich kenne eine Frau, die zufällig nie mit einem Juden in Berührung gekommen war, bis sie in den "Bund Deutscher Mädel" eintrat. In ihrer Kindheit wurde sie sehr streng erzogen, ihre Eltern brauchten sie zu Hause für den Haushalt, nachdem die anderen Geschwister (zwei Brüder und eine Schwester) das Haus verlassen hatten. Sie durfte deshalb keinen Beruf erlernen, obwohl sie ganz ausgeprägte Berufswünsche hatte und auch die Begabung dafür besaß. Sie erzählte mir viel später, mit welcher Begeisterung sie "von den Verbrechen der Juden" in Mein Kampf gelesen und welche Erleichterung es in ihr ausgelöst hatte, zu wissen, daß man da jemanden so eindeutig hassen durfte. Nie hatte sie ihre Geschwister offen beneiden dürfen, als diese ihren Berufen hatten nachgehen können. Aber dieser jüdische Bankier, dem ihr Onkel für ein Darlehen Zinsen hatte zahlen müssen, der war ein Ausbeuter auf Kosten des armen Onkels, mit dem sie sich identifizierte. Denn sie wurde tatsächlich von den Eltern ausgebeutet, und auf die Geschwister neidisch, aber solche Gefühle durfte ein anständiges Mädchen nicht haben. Und nun gab es ganz unerwartet eine so einfache Lösung: Man durfte hassen, soviel man wollte, und blieb doch oder gerade deshalb das liebe Kind des Vaters und die nützliche Tochter des Vaterlandes. Außerdem konnte man das "böse" und schwache Kind, das man in sich immer zu verachten lernte, auf die Juden projizieren, die eben schwach und hilflos waren, und sich selbst als nur stark, nur rein (arisch), nur gut erleben.
Und Hitler selbst? Hier nahm ja die ganze Inszenierung ihren Anfang. Auch für ihn gilt, daß er im Juden das hilflose Kind, das er selber einst gewesen ist, in der gleichen Art mißhandelt, wie sein Vater ihn. Und wie der Vater nie genug hatte und jeden Tag neu prügelte und ihn mit 11 Jahren fast zu Tode schlug, so hatte auch Adolf Hitler nie genug und schrieb in seinem Testament, nachdem er 6 Millionen Juden hatte töten lassen, es müßten noch die Reste des Judentums ausgerottet werden. Ähnlich wie bei Alois und den anderen schlagenden Vätern zeigt sich hier die Angst vor der möglichen Auferstehung und Rückkehr der abgespaltenen Teile ihres Selbst. Deshalb ist dieses Schlagen eine nie endende Aufgabe, hinter ihr steht die Angst vor dem Aufleben der eigenen unterdrückten Ohnmacht, Demütigung, Hilflosigkeit, denen man das ganze Leben mit Hilfe der Grandiosität zu entfliehen versucht hat: Alois mit dem Posten des höheren Zollbeamten, Adolf als Führer, ein anderer vielleicht als Psychiater, der auf Elektroschocks schwört, oder als Arzt, der Affengehirne verpflanzt, als Professor, der Meinungen vorschreibt oder einfach als Vater, der seine Kinder erzieht. In all diesen Anstrengungen geht es nicht um die anderen Menschen (oder Affen), in allem, was diese Männer mit Menschen tun, wenn sie andere verachten und erniedrigen, geht es eigentlich um die Ausrottung der eigenen einstigen Ohnmacht und Vermeidung der Trauer.

Helm Stierlins interessante Studie über Hitler geht davon aus, daß Adolf von seiner Mutter zu ihrer Rettung unbewußt "delegiert" wurde. Das unterdrückte Deutschland wäre dann ein Symbol für die Mutter. Dies mag wohl stimmen, aber in der Verbissenheit seines späteren Handelns kommen zweifellos auch ureigene, unbewußte Interessen zum Ausdruck. Es ist ein gigantischer Kampf um die Befreiung des eigenen Selbst aus den Spuren grenzenloser Erniedrigung, für das Deutschland symbolisch einsteht. Doch das eine schließt das andere nicht aus: Auch die Rettung der Mutter bedeutet für ein Kind den Kampf um die eigene Existenz. Anders ausgedrückt: wenn Adolfs Mutter eine starke Frau gewesen wäre, hätte sie ihn- in der Phantasie des Kindes - nicht diesen Qualen und der ständigen Furcht und Todesangst ausgesetzt. Da sie aber selber erniedrigt und ihrem Manne völlig hörig war, konnte sie das Kind nicht beschützen. Nun mußte er die Mutter (Deutschland) vor dem Feind retten, um eine gute, reine, starke, judenfreie Mutter zu haben, die ihm Sicherheit gegeben hätte. Sehr oft phantasieren Kinder, daß sie ihre Mütter erlösen oder retten müßten, damit sie ihnen endlich die Mütter sein könnten, die sie einst gebraucht hätten. Das kann zu einer Ganztagsbeschäftigung im späteren Leben werden. Da aber kein Kind die Möglichkeit hat, die eigene Mutter zu retten, führt der Wiederholungszwang dieser Ohnmacht, falls er in seinem Ursprung nicht erkannt und erlebt wird, unweigerlich zum Mißerfolg oder sogar zur Katastrophe. Stierlins Gedanken ließen sich unter diesem Gesichtspunkt weiter verfolgen und würden in der Symbolsprache etwa zu folgendem Ergebnis führen: Die Befreiung Deutschlands und die Zerstörung des jüdischen Volkes bis auf den letzten Juden, d.h. die vollständige Beseitigung des bösen Vaters, hätten Hitler die Bedingungen geschaffen, die ihn zum glücklichen, in Ruhe und Frieden mit seiner geliebten Mutter aufwachsenden Kind hätten machen können.
Diese unbewußte symbolische Zielsetzung hat selbstverständlich wahnhaften Charakter, weil die Vergangenheit nicht mehr zu ändern ist, doch jeder Wahn hat seinen Sinn, der sehr leicht zu verstehen ist, wenn man die Kindheitssituation kennt. Durch Krankengeschichten und Angaben der Biographen, die gerade die wesentlichsten Daten aus Abwehrgründen übersehen, wird dieser Sinn häufig entstellt. So wurde z. B. viel darüber geschrieben und recherchiert, ob der Vater von Alois Hitler wirklich ein Jude war oder nicht und ob Alois als Alkoholiker bezeichnet werden könne oder nicht.
Aber die psychische Realität des Kindes hat mit dem, was die Biographen später als Fakten "beweisen", oft sehr wenig zu tun. Gerade der Verdacht auf jüdisches Blut in der Familie ist für ein Kind viel belastender als die Gewißheit. Schon Alois mußte unter dieser Ungewißheit gelitten haben, und zweifellos hat Adolf von den Gerüchten gehört, auch wenn man nicht gerne und laut darüber gesprochen hat. Gerade das, was die Eltern verschweigen wollen, beschäftigt das Kind am meisten, besonders wenn es ein Haupttrauma seines Vaters war (vgl. S. 196f.).

Die Verfolgung der Juden "ermöglichte" Hitler in der Phantasie, seine Vergangenheit zu "korrigieren". Sie erlaubte ihm:

1. die Rache am Vater, der als Halbjude verdächtigt wurde;
2. die Befreiung der Mutter (Deutschland) von ihrem Verfolger;
3. die Erlangung der Liebe der Mutter mit weniger moralischen Sanktionen, mit mehr wahrem Selbst (Hitler wurde ja als schreiender Judenhasser vom deutschen Volk geliebt, nicht als katholisches braves Kind, das er für seine Mutter sein mußte);
4. die Umkehr der Rollen - er selber ist nun zum Diktator geworden, ihm muß jetzt alles gehorchen und zu Füßen liegen, wie einst dem Vater, er organisiert Konzentrationslager, in denen Menschen so behandelt werden, wie er als Kind behandelt worden ist. (Ein Mensch denkt sich kaum etwas Ungeheuerliches aus, wenn er es nicht irgendwie aus Erfahrung kennt. Wir neigen nur dazu, die kindliche Erfahrung zu bagatellisieren.)
5. Außerdem ermöglichte die Judenverfolgung eine Verfolgung des schwachen Kindes im eigenen Selbst, das auf die Opfer projiziert wurde, um keine Trauer über vergangenes Leid zu erleben, weil ihm die Mutter nie dabei hatte helfen können. Darin, sowie in der unbewußten Rache auf den Verfolger der frühen Kindheit, traf sich Hitler mit einer großen Zahl von Deutschen, die in der gleichen Situation aufgewachsen waren.

Im Familienbild von Adolf Hitler, wie es von Stierlin gezeichnet wurde, steht noch die liebevolle Mutter, die zwar die Retterfunktion auf das Kind delegiert, es aber auch vor der Gewalt des Vaters beschützt. Auch in Freuds Ödipusversion gibt es diese geliebte und liebende, idealisierte Mutterfigur. Klaus Theweleit kommt in seinen Männerphantasien der Wirklichkeit dieser Mütter sehr viel näher, obwohl auch er sich scheut, die letzten Konsequenzen aus seinen Texten zu ziehen. Er stellt fest, daß sich bei den von ihm analysierten Vertretern der faschistischen Ideologie immer wieder das Bild eines strengen, züchtigenden Vaters und der liebevollen, beschützenden Mutter findet. Sie wird als "die beste Frau und Mutter von der Welt", als "der gute Engel", "als klug, charakterfest, hilfsbereit und tief religiös" bezeichnet (vgl. Theweleit, Band 1, S. 133). An den Müttern der Kameraden oder an den Schwiegermüttern wird außerdem ein Zug bewundert, von dem man offenbar die eigene Mutter ausgenommen haben möchte: die Härte, die Liebe zum Vaterland, die preußische Haltung ("Deutsche weinen nicht"), - die Mutter aus Eisen, der "keine Wimper zuckt bei der Nachricht vom Tode ihrer Söhne".

Theweleit zitiert:

Dennoch, nicht diese Nachricht gab der Mutter den Rest. Vier Söhne fraß ihr der Krieg, sie überstand es; ein daneben Lächerliches erschlug sie. Lothringen wurde welsch und damit die Erzgruben der Gesellschaft (S. 135).

Wie aber, wenn diese beiden Seiten zwei Hälften der eigenen Mutter waren?
Hermann Ehrhardt erzählt:

Vier Stunden hab ich einmal im Winter in der Nacht verbockt draußen im Schnee gestanden, bis endlich die Mutter behauptete, es sei nun der Strafe genug (ebd., S. 133).

Bevor die Mutter den Sohn "rettet", indem sie findet, es sei "nun der Strafe genug", läßt sie ihn ja immerhin vier Stunden im Schnee stehen. Ein Kind kann nicht verstehen, warum ihm die geliebte Mutter so weh tut, es kann es nicht fassen, daß die in seinen Augen riesengroße Frau im Grunde wie ein kleines Mädchen ihren Mann fürchtet und ihre eigenen Kindheitsdemütigungen ihrem kleinen Jungen unbewußt weitergibt. Ein Kind muß unter dieser Härte leiden. Aber es darf dieses Leiden nicht leben und nicht zeigen. Es bleibt ihm nichts übrig, als es abzuspalten und es auf andere zu projizieren, d. h. den harten Zug seiner Mutter fremden Müttern zuzuschreiben und ihn dort schließlich sogar zu bewundern.
Konnte Klara Hitler ihrem Sohn helfen, solange sie selber das hörige, unterwürfige Dienstmädchen ihres Gatten war? Sie nannte ihren Mann zu Lebzeiten schüchtern "Onkel Alois", und nach seinem Tode blickte sie ehrfurchtsvoll auf seine in der Küche ausgestellten Pfeifen, jedesmal, wenn jemand seinen Namen erwähnte.
Was geschieht in einem Kind, wenn es immer wieder erfahren muß, daß die gleiche Mutter, die ihm von Liebe spricht, ihm das Essen sorgfältig bereitet, ihm schöne Lieder singt, zur Salzsäule erstarrt und bewegungslos zusieht, wenn dieses Kind vom Vater blutig geschlagen wird? Wie muß es sich fühlen, wenn es immer wieder vergeblich ihre Hilfe, ihre Rettung erhofft; wie muß es sich fühlen, wenn es vergeblich in seiner Folter erwartet, sie möge doch endlich ihre Macht einsetzen, die doch in seinen Augen so groß ist? Aber diese Rettung findet nicht statt. Die Mutter sieht zu, wie ihr Kind gedemütigt, verspottet, gefoltert wird, ohne ihr Kind zu verteidigen, ohne etwas Erlösendes zu tun, sie ist durch ihr Schweigen mit dem Verfolger solidarisch, sie liefert ihr Kind aus. Kann man erwarten, daß das Kind dies versteht? Und muß man sich wundern, wenn die Verbitterung auch der Mutter gilt, obschon ins Unbewußte verdrängt? Dieses Kind wird seine Mutter vielleicht bewußt heiß lieben; und später, bei anderen Menschen, wird es immer wieder das Gefühl haben, ausgeliefert, preisgegeben, verraten worden zu sein.
Hitlers Mutter ist sicher keine Ausnahmeerscheinung, sondern noch vielfach die Regel, wenn nicht sogar ein Ideal vieler Männer. Aber kann eine Mutter, die nur Sklavin ist, ihrem Kind die nötige Achtung geben, die es braucht, um seine Lebendigkeit zu entwickeln? In der nachfolgenden Schilderung der Masse in Mein Kampf läßt sich ablesen, welches Vorbild an Weiblichkeit Adolf Hitler bekommen hat:

Die Psyche der breiten Masse ist nicht empfänglich für alles Halbe und Schwache.
Gleich dem Weibe, dessen seelisches Empfinden weniger durch Gründe abstrakter Vernunft bestimmt wird, als durch solche einer undefinierbaren, gefühlsmäßigen Sehnsucht nach ergänzender Kraft, und das sich deshalb lieber dem Starken beugt, als den Schwächling beherrscht, liebt auch die Masse mehr den Herrscher als den Bittenden, und fühlt sich im Innern mehr befriedigt durch eine Lehre, die keine andere neben sich duldet, als durch die Genehmigung liberaler Freiheit; sie weiß mit ihr auch meist nur wenig anzufangen und fühlt sich sogar leicht verlassen. Die Unverschämtheit ihrer geistigen Terrorisierung kommt ihr ebensowenig zum Bewußtsein, wie die empörende Mißhandlung ihrer menschlichen Freiheit, ahnt sie doch den inneren Irrsinn der ganzen Lehre in keiner Weise. So sieht sie nur die rücksichtslose Kraft und Brutalität ihrer zielbewußten Äußerungen, der sie sich endlich für immer beugt (zit. n. Fest, 1978, S. 79).

In dieser Beschreibung der Masse porträtiert Hitler sehr genau seine Mutter und ihre Unterwerfung. Seine politischen Richtlinien stützen sich auf sehr früh erworbene Erfahrungen: die Brutalität siegt immer.
Hitlers Verachtung des Weibes, aus seiner Familiensituation begreiflich, betont auch Fest. Er meint:

Seine Rassentheorie war durchsetzt von sexuellen Neidkomplexen und einem tiefsitzenden antiweiblichen Affekt: das Weib, so versichert er, habe die Sünde in die Welt gebracht, und seine Anfälligkeit für die wollüstigen Künste der tierischen Untermenschen sei die Hauptursache für die Verpestung des nordischen Blutes (Fest, 1978, S. 64).
Vielleicht nannte Klara ihren Mann "Onkel Alois" aus bloßer Schüchternheit. Aber er ließ sich das doch zumindest gefallen. Ob er es sogar gefordert hat, so wie er von seinen Nachbarn per "Sie" und nicht mit "Du" angeredet zu werden wünschte? Auch Adolf nennt ihn ja "Herr Vater" in Mein Kampf, was möglicherweise auf den Wunsch des Vaters zurückzuführen ist, der sehr früh verinnerlicht wurde. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Alois mit solchen Anordnungen das Elend seiner frühen Kindheit (von der Mutter weggegeben, unehelich, arm, von unbekannter Herkunft) kompensieren und sich endlich als Herr fühlen wollte. Aber von dieser Vorstellung ist es nur ein Schritt zu dem Gedanken, daß sich deshalb alle Deutschen 12 Jahre lang mit "Heil Hitler" begrüßen mußten. Ganz Deutschland mußte sich den ausgefallensten, ganz privaten Ansprüchen des Führers fügen wie einst Klara und Adolf dem allmächtigen Vater.

Hitler schmeichelte der "deutschen, germanischen" Frau, weil er ihre Huldigungen, ihre Wahl-Stimmen und ihre sonstigen Dienste brauchte. Auch die Mutter hatte er gebraucht. Aber eine wirklich warme Vertrautheit konnte er mit seiner Mutter nicht entwickeln. Stierlin schreibt:

N. Bromberg (1971) berichtet wie folgt über Hitlers sexuelle Gewohnheiten: " . . . um zu einer vollen sexuellen Befriedigung zu gelangen, war es für Hitler notwendig, eine junge Frau über seinem Kopfe hockend zu beobachten, die in sein Gesicht urinierte oder defäzierte." Er berichtet weiter über " . . . eine Episode von erotogenem Masochismus, bei der sich Hitler vor die Füße einer jungen deutschen Schauspielerin warf und sie bat, ihn zu treten. Als sie es zunächst nicht wollte, beschwor er sie, seinem Wunsche zu genügen. Dabei überschüttete er sich selbst mit Anschuldigungen und wand sich in einer so gequälten Weise vor ihr, daß sie schließlich seinem Flehen stattgab. Als sie ihn trat, wurde er erregt und als sie seinem Bitten nachgab und ihn noch mehr trat, steigerte sich die Erregung. Der Altersunterschied zwischen Hitler und den jungen Frauen, mit denen er sich in irgendeiner Weise sexuell einließ, entsprach gewöhnlich etwa den 23 Jahren, die zwischen seinen Eltern gelegen hatten (Stierlin, 1975, S. 168).

Es ist völlig undenkbar, daß ein Mann, der als Kind von seiner Mutter zärtlich geliebt worden wäre, was ja die meisten Hitler-Biographen beteuern, an solchen sadomasochistischen Zwängen, die auf eine sehr frühe Störung hinweisen, gelitten hätte. Aber unser Begriff der Mutterliebe hat sich offenbar noch nicht ganz von der Ideologie der "Schwarzen Pädagogik" gelöst.

Zusammenfassung

Wenn ein Leser die Überlegungen zu Adolf Hitlers früher Kindheit als Sentimentalität oder gar als "Entschuldigung" seiner Taten auffassen sollte, so ist es natürlich sein gutes Recht, das Gelesene so zu verstehen, wie er es kann oder muß. Menschen, die z. B. sehr früh lernen mußten, "auf die Zähne zu beißen", empfinden in ihrer Identifikation mit dem Erzieher jedes einem Kind erwiesene Mitgefühl als Ausdruck von Rührseligkeit oder Sentimentalität. Was das Schuldproblem betrifft, so habe ich ja gerade deshalb Hitler gewählt, weil mir kein anderer Verbrecher bekannt ist, der mehr Menschenleben auf seinem Gewissen hat. Aber mit dem Wort "Schuld" ist noch nichts gewonnen. Es ist selbstverständlich unser gutes Recht und eine Notwendigkeit, Mörder einzusperren, die unser Leben bedrohen. Vorläufig kennen wir noch keinen anderen Weg. Doch das ändert nichts daran, daß das Morden müssen der Ausdruck eines tragischen Kinderschicksals und das Gefängnis eine tragische Besiegelung dieses Schicksals ist.

Sucht man nicht nach neuen Fakten, sondern nach ihrer Bedeutung im Ganzen der bekannten Geschichte, so stößt man bei der Hitler-Forschung auf Fundgruben, die noch kaum ausgewertet worden sind und daher der Öffentlichkeit vorenthalten bleiben. Meines Wissens ist z. B. die wichtige Tatsache, daß Klara Hitlers bucklige und schizophrene Schwester, Adolfs Tante Johanna, von seiner Geburt an, seine ganze Kindheit hindurch, im gleichen Haushalt lebte, bisher wenig beachtet geblieben. In den von mir gelesenen Biographien jedenfalls fand ich diese Information nie im Zusammenhang mit dem Gesetz der Euthanasie im Dritten Reich. Damit ein solcher Zusammenhang einem Menschen auffällt, müßte dieser spüren dürfen, welche Gefühle in einem Kind hochkommen, das täglich einem extrem absurden und beängstigenden Verhalten ausgesetzt ist und dem es zugleich verboten ist, seine Angst, Wut und seine Fragen zu artikulieren. Auch die Gegenwart einer schizophrenen Tante kann vom Kind positiv verarbeitet werden, aber nur, wenn es mit seinen Eltern auf der emotionalen Ebene frei kommunizieren und mit ihnen über seine Ängste sprechen kann.
Franziska Hörl, die Hausangestellte zur Zeit Adolfs Geburt, berichtete in einem Interview mit Jetzinger, daß sie es wegen dieser Tante nicht länger ausgehalten hätte und ihretwegen weggegangen wäre. Sie sagte einfach: "Bei dieser spinnenden Buckligen bleibe ich nicht mehr" (vgl. Jetzinger, S. 81).
Das eigene Kind darf so etwas nicht sagen, es hält alles aus, es kann ja nicht weggehen; erst wenn es erwachsen wird, kann es handeln. Als Adolf Hitler erwachsen wurde und zur Macht kam, konnte er sich endlich tausendfach an dieser unglücklichen Tante für sein eigenes Unglück rächen: er ließ alle in Deutschland lebenden Geisteskranken töten, weil sie, seinem Gefühl nach, für die "gesunde" Gesellschaft (d. h. für ihn als Kind) "unbrauchbare Menschen" waren. Als Erwachsener mußte sich Adolf Hitler nichts mehr gefallen lassen, konnte sogar ganz Deutschland von der "Plage" der Geisteskranken und Geistesschwachen "befreien" und war auch nicht verlegen, ideologische Verbrämungen für diese ganz persönliche Rache zu finden.

Mit der Vorgeschichte des Euthanasie-Gesetzes habe ich mich in meiner Darstellung nicht beschäftigt, weil es mir in diesem Buch vor allem darum ging, die Folgen der aktiven Demütigung eines Kindes an einem eindrücklichen Beispiel zu schildern. Da eine solche Demütigung, gepaart mit Redeverbot, ein stabiler Faktor der Erziehung und überall anzutreffen ist, wird der Einfluß dieses Faktors auf die spätere Entwicklung des Kindes leicht übersehen. Mit dem Hinweis, daß Schläge üblich seien, oder gar mit der Überzeugung, daß sie notwendig sind, um zum Lernen anzuspornen, wird das Ausmaß der kindlichen Tragödie völlig ignoriert. Da ihre Beziehung zu den späteren Verbrechen nicht gesehen wird, kann sich die Welt über diese entsetzen und ihre Vorgeschichte übergehen, als ob die Mörder vom heiteren Himmel heruntergefallen wären.
Ich habe Hitler hier nur als Beispiel genommen, um zu zeigen:

  1. daß auch der größte Verbrecher aller Zeiten nicht als Verbrecher auf die Welt gekommen ist;
  2. daß die Einfühlung in das Kinderschicksal die Einschätzung der späteren Grausamkeiten nicht ausschließt (das gilt sowohl für Alois wie für Adolf);
  3. daß das Verfolgen auf abgewehrtem Opfersein beruht;
  4. daß das bewußte Erlebnis des eigenen Opferseins mehr vor Sadismus, d. h. vor dem Zwang, andere zu quälen und zu demütigen, schützt als seine Abwehr;
  5. daß die vom Vierten Gebot und von der "Schwarzen Pädagogik" vorgeschriebene Schonung der Eltern dazu führt, ganz entscheidende Faktoren in der frühen Kindheit und der späteren Entwicklung eines Menschen Zu übersehen;
  6. daß man als erwachsener Mensch mit Beschuldigungen, Entrüstung und Schuldgefühlen nicht weiterkommt, sondern mit dem Verstehen der Zusammenhänge;
  7. daß das wirkliche emotionale Verstehen nichts mit einem billigen, sentimentalen Mitleid zu tun hat;
  8. daß die Ubiquität eines Zusammenhangs uns nicht davon befreit, ihn zu untersuchen, sondern ganz im Gegenteil, weil er unser aller Schicksal ist oder sein kann;
  9. daß das Ausleben eines Hasses im Gegensatz steht zum Erleben. Das Erleben ist eine intrapsychische Realität, das Ausleben dagegen ist eine Handlung, die den andern Menschen das Leben kosten kann. Wo der Weg zum Erlebnis durch Verbote aus der "Schwarzen Pädagogik" oder durch die Bedürftigkeit der Eltern versperrt ist, da muß es zum Ausleben kommen. Dieses kann sich entweder in der destruktiven Form wie bei Hitler oder in der selbstdestruktiven wie bei Christiane F. zeigen. Es kann aber auch wie bei den meisten Verbrechern, die im Gefängnis landen, sowohl die Zerstörung des Selbst wie die des Anderen ausdrücken. Das wird am Beispiel von Jürgen Bartsch deutlich, mit dem ich mich im nächsten Kapitel beschäftige.

¹ Die von Ray E. Helfer und C. Henry Kempe 1979 unter dem Titel. Das geschlagene Kind herausgegebenen Aufsätze unterrichten den Leser mit sehr viel Einfühlung und Kenntnis über die Motive der Züchtigung von Säuglingen.

² Diese Information verdanke ich einer mündlichen Mitteilung von Paul Moor.

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